Die Jungs, die mich noch auf dem Gymnasium Brillenschlange nannten, hatte sich beim dreißigjährigen Abijubiläum bei mir entschuldigt. Damals war ich gerade noch mal Mutter geworden, meine Brüste waren voll (um halb zwei so voll, dass sie ausliefen). Ich trug ein maigrünes Neckholderkleid, mein Rücken war trainiert, die Haut goldbraun. Mein Mann vergötterte und vewöhnte mich und ich strahlte. Ich feierte meine Weiblichkeit und wusste um meine Schönheit. Ich fand uns Frauen an diesem Abend übrigens alle viel interessanter und attraktiver als die Männer.
Zehn Jahre später musste ich die verdammte Brille wieder tragen. Meine Augen vertrugen keine Kontaktinsen mehr. Ich fing wieder an, mich wie ein hässliches Entlein zu fühlen, ging aber tapfer dagegen an. Mein Mann und ich hatten zu diesem Zeitpunkt bereits gravierende Probleme, die absolut nichts mit meinem Aussehen zu tun hatten. Dennoch fehlte mir sein Begehren. Anfangs zog ich alle Register: schöne Wäsche, schöne Frisuren, ich trug ein Jahr lang ausschließlich Röcke – und zweifelte wie immer an mir, als nichts davon Wirkung zeigte. Dann richtete ich mich über viele Jahre im Mangel ein. Heute wissen mein Mann und ich, was es ihm unmöglich machte, mich weiterhin zu verehren. Es hat tatsächlich weder mit mir, meiner Brille, noch mit meinem Altern zu tun (und es gehört nicht in dieses öffentliche Tagebuch). Dennoch sitzen mir Ablehnung und Zurückweisung – ja wo? Soll ich das tatsächlich schreiben: in den Knochen? Oder: ich war bis ins Blut gekränkt? Solche Gedanken kommen mir. Und dass ich viel früher hätte anfangen müssen, besser für mich zu sorgen, aus dem Mangel auszubrechen. Ich kann mir zu diesem vagen Gefühl, mich über meine fehlende Selbstfürsorge in Stoffwechsellagen gebracht zu haben, die Zellmutationen begünstigen, noch keine klare Meinung bilden. Diese Art der inneren Ursachenforschung, die an Schuld oder zumindest an Versäumnis am Selbst geknüpft ist, ist belastend. So belastend, dass ich mich nur seitenweise an Gabor Matés Buch „Wenn der Körper nein sagt“ heranwage. Noch immer fühle ich mich wie zu Unrecht bestraft. Als hätte ich meine Hausaufgaben nicht gemacht! Dabei hatte ich das alles doch begriffen und mich auf den Weg zu mir selbst begeben, war meinem Herzen in den Süden Europas gefolgt. Ich habe angefangen meiner Begabung zu vertrauen und mich getraut, meine Geschichten und Gedichte zu schreiben und zu veröffentlichen. Anscheinend war es zu spät gewesen. Auf Zellebene hatte es wohl schon viel zu lange vor sich hin gegoren. Und wenn ich ganz ehrlich mit mir selbst bin: Ich war von einem Mangelzustand in den anderen gewechselt. Der Mann, mit dem ich dreieinhalb Jahre eine intensive, super romantische Scheinbeziehung (sein Wort) führte, der Mensch, dem ich seelisch zutiefst verbunden bin, erwidert meine Liebe nicht. Wieder hatten mich Selbstzweifel zernagt. Wieder hatte ich meine Seele in den gewaltigen Bemühungen um „unsere Liebe“ bis in die Erschöpfung getrieben. Wieder hat es nichts mit mir zu tun. Nur mit ihm selbst, denn er liebt, aus Selbstschutz, seit Jahrzehnten überhaupt nicht mehr. Wieder hat es nichts mit meinem Alter und mit meiner Schönheit zu tun.
Und trotzdem sitzt dieser Gedanke so fest: ich verliere meine Haare und damit meine weibliche Attraktivität. Ich stehe heulend und schreiend vor dem Spiegel. Die vor einer Woche erst tapfer kurz geschnittenen und blondierten Haare rieseln wie Heu ins Waschbecken, klebten beim Duschen überall auf meiner Haut. Es war ja angekündigt. Ich habe am 4. August unterschrieben, über diese und andere Nebenwirkungen der Chemo aufgeklärt worden zu sein. Ich darf meinen Kopf nicht berühren, schon habe ich wieder Haare zwischen den Fingern. Mein Spiegelbild entsetzt mich. Ich sehe aus wie eine Strafgefangene. Geschunden. Verstümmelt. Es ist herzzerreißend. Ich schäme mich, weil ich doch weiß, dass Haare nachwachsen werden. Vielleicht habe ich schon zu Weihnachten neue. Eine amputierte Brust wäre ein wirklicher Grund, schreiend vor dem Spiegel zu stehen. Dennoch bricht rasende Trauer aus mir heraus, wie ein verwundetes Tier, das fauchend durch seinen Käfig springt und archaische Laute von sich gibt. Es ist später Vormittag und ich weine mich in einen Erschöpfungsschlaf, am frühen Nachmittag noch mal in einen auf dem neuen Sofa, der moosgrünen Oase. Jetzt ist es bereits halb fünf…ich hab immerhin diesen Text verfasst, aber ansonsten nichts geschafft, außer mich selbst zu bemitleiden und zu ertragen. An den Rasierer hab ich mich noch immer nicht gewagt. Das steht mir bevor. Und am Montagmorgen muss ich, möglichst fröhlich, auf der Aulabühne stehen und im Namen der Nachmittagsbetreuung zweihundert Eltern und neue Fünftklässlerinnen und Fünftklässler begrüßen. Meine letzte Amtshandlung bevor ich mich endgültig und offiziell in den Krankenstand begebe. WTF.
3 Antworten
Seit der Entfernung der Haare, habe ich mich noch kein einziges mal im Spiegel ohne Haare gesehen.
Spiegel beim Waschen weg gedreht, Vorteil ich sehe ohne Brille sehr schlecht. Sofort mindestens die Mütze aufgesetzt.
Ich leide ganz furchtbar über den Verlust der Haare, es ist unbeschreiblich was es mit einem macht.
LG Gabi
Liebe Judith,
danke für deine fesselnden Worte, die mich sehr berührt haben.
Mein Myelom schwelt noch, die Werte werden aber schlechter. Daher schwanken auch meine Gefühle zwischen Angst und Zuversicht. Das Muttersein macht alles intensiver. Meine drei Kinder sind noch jünger, ebenso ich (44), aber dennoch erinnert mich vieles, das du schreibst an mein Innerstes.
Die Unbeschwertheit des Lebens ist vorbei, aber trotzdem ist da noch so viel Hoffnung und Liebe zum Leben. Dieses intensiver zu gestalten und im Hier und Jetzt zu leben wird immer wichtiger.
Ich wünsche dir von Herzen alles Gute für die Behandlung!
Janine
Die Haare kommen wieder und schöner wie vorher!!! Und es geht wirklich sehr schnell man muss nur durchhalten.