Louise

Da saßen wir also an Louises großem Tisch, an dem wir alle immer klein wie Kinder wurden.

Und natürlich saßen wir im Lichtermeer. Gleich käme sie mit warmem Schokoladenkuchen aus der Küche, dem besten Dessert aller Zeiten. Wir öffneten schon mal den Rotwein, den man unbedingt dazu trinken muss.

Lara schluchzte als erste auf. Sie rettete sich auf Kauz’ Schoß und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Kauz hatte Mühe seine große Tochter zu halten. Seine Tränen flossen in ihr Haar.

Schratiger und ich sahen uns an. Er stand auf und stellte sich einfach hinter Kauz Stuhl. Mehr war es nicht. Liebe. Ich saß Kauz und Lara gegenüber. Schratiger und ich versuchten wortlos ein Kraftfeld aufzubauen, dass den beiden Schutz und Halt gab. Bela legte mir seine inzwischen so große Hand auf die Schulter.

Vor wenigen Stunden hatten wir fünf Louises merkwürdig leichten Sarg aus der kleinen Dorfkirche getragen und in ihr Grab hinuntergelassen. Und doch begriffen wir nicht. Sie musste doch jeden Augenblick den Kuchen bringen. Den Kuchen, dessen letztes Stück man teilen muss.

Lara sprang unvermittelt von Kauz’ Schoß und sagte: „Ich weiß, wie er geht. Bela, kommst Du mit mir in die Küche? Ich mag da nicht alleine sein.“

Wir machten den Kamin an, setzten uns, Kauz in der Mitte, aufs Sofa und blätterten durch Louises Fotoalben. Wir sahen die Fotos die Schratiger von Louises Keramiken gemacht hatte, als die beiden ihre ersten Herbstferien bei ihr verbracht hatten.

Natürlich sah ich all die Bilder von Aenne mit Lara. Am Strand, mit Bilderbuch vorm Kamin, in der Werkstatt. Bilder für Oma zur Weihnacht. Lindgrüne Osterfrühstücke. Kauz und Aenne, Arm in Arm am Strand schlendernd. Ich sah eine strahlende Frau und eine sehr glückliche Familie.

Alles in allem nicht viel Anderes als in den Alben von Hannes, Bela und mir.

Was so lange an meiner Seele gefressen hatte, löste sich auf. Ob es das auch getan hätte, hätte Aenne daneben gesessen? Oder war gerade sogar etwas von ihr mit uns im Raum?

Warum hatte ich das vorher nicht schaffen können?

Ich schielte zu Schratiger hinüber und versuchte zu erahnen, was in ihm vorging.

Kauz und ich hatten jeder ein Familienleben geführt – zwar nicht zusammen, aber wir hatten über so lange Zeit in dieser Geborgenheit gelebt. In dieser Geborgenheit, die manchmal zu eng und meistens unsexy wird, aber immer trägt.

In einem anderen Album sahen wir Kauz heranwachsen, Louise und Richard als junge Eltern. Und jetzt waren unsere eigenen Kinder schon so groß.

Schließlich begegneten wir uns selbst in dem kleinen petrolfarbenem Album.

Wir hatten es Louise zu einem Geburtstag geschenkt. Das erste Bild zeigte uns drei auf unserer Insel. Wir waren nackt, hatten uns aber die Decke bis unter die Achseln gezogen und grinsten wie Honigkuchenpferde in Schratigers Kamera. Himmel waren wir. Jung und selig.

„Du hattest ja tatsächlich mal Haare auf dem Kopf!“ 

„Und Du hattest schon immer welche auf den Zähnen.“

„Ich hatte nur diesen Babyflaum.“

„Das war kein Flaum, Eliza, das waren Stoppeln.“

„Um nicht Stacheln zu sagen.“

Wir sahen unser Türschild. Unsere Küche. Unser Dach. Und auch die drei wie olympische Ringe ineinander verschlungenen Herzen, die wir mit einem Stock in den feuchten Sand gezeichnet hatten. Gleich hier neben dem Haus. Es schien gar nicht lange her zu sein.

Wir kicherten ein bisschen vor uns hin, während wir diese jungen Ausgaben unserer Selbst betrachteten als sähen wir Schnipsel eines Filmes, der vor langer Zeit in den Kinos gewesen war.

Lara und Bela steckten neugierig ihre Köpfe durch die Tür und kamen wieder herüber. Der Kuchen war im Rohr und die beiden seltsam verstrubbelt mit ein bisschen Schokolade um die Münder.  Kauz und ich wechselten einen ganz kurzen Blick. Es war ein Moment der Fassungslosigkeit und Erkenntnis.  Wir ließen ihn umgehend fallen, so sehr überforderte er uns.

Die beiden rissen uns das kleine Büchlein aus den Händen.

Wir ließen es zu und sie blätterten kommentarlos. Stille. Nur das Feuer knisterte.

Da saßen sie nebeneinander im Schneidersitz auf dem dicken Berber und könnten fast Geschwister sein.

Auf dem letzten Foto hielt ich freudestrahlend einen Mutterpass in die Kamera.

Als Schratiger es sah, standen Tränen in seinen Augen. Ich beobachtete ihn die ganze Zeit. Kauz legte ihm die Hand auf`s Knie. Wie damals.

Lara und Bela ließen das Album sinken und sahen uns an. Keine Fragen. Wir hielten ihren forschenden Blicken stand ohne uns zu erklären. Und wie um uns zu spiegeln umarmten sie sich und küssten sich sehr leidenschaftlich, nahezu hemmungslos. Natürlich lag auch eine Spur Provokation in diesem Kuss. Aber das war ihr gutes Recht mit Anfang zwanzig.

Schratiger durchbrach die Stille, kündigte an, nach dem Kuchen zu sehen. Wir sollten Teller und Gabeln bereithalten.

Kauz und Schratiger

Ouvertüre: Elysion.

Das Glück ist eine pinke Insel inmitten bestandener Mutproben

Ich erinnere mich noch genau an ihre Blicke. Kauz und Schratiger. Damals hatten sie noch richtige Vornamen und schauten mich erwartungsvoll an wie Buben. Waren sie damals ja auch noch. Kauz hielt sich an seiner Cola fest und Schratiger machte auf lässig, in dem er tief an einer Selbstgedrehten zog, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Dass er alles andere als cool war, verrieten seine unruhigen Beine. Ich saß auf einem Stapel leerer Kästen und war noch so rockig kurzgeschoren, trug Lederjacke und Bikerboots, obwohl ich gar nicht fahren konnte. Und ein türkises Steinchen im linken Nasenflügel.

„Also gut“, sagte ich, sprang herunter, wie es Zora alle Ehre gemacht hätte und reichte ihnen feierlich und über Kreuz meine Hände. Das war noch zu Zeiten, als man auf Partys nicht rumstand und sich befragte, was man so mache, beruflich. Man machte einfach. Und zwar das, wonach einem der Sinn stand und was man sich gerade leisten konnte. Schratiger zog um die Welt und fotografierte. Kauz dachte über sie nach und sein Vater finanzierte ihm das. Ich machte ihnen Feuer unterm Hintern und wischte anderen Leuten, die es selbst nicht mehr konnten, die Scheiße ab.

In Zwischenzeiten war ich mir sicher, Lyrikerin zu sein. Deshalb auch die zwei Männer, die leistete ich mir. Ich fand das standesgemäß.

Der Überkreuz-Deal des Abends machte mich offiziell zu ihrer Mitbewohnerin. Ich hatte das Schwesternwohnheim endgültig satt und in den letzten drei Monaten ohnehin die freien Wochenenden bei meinen Jungs verbracht.  Mal schlief ich bei Kauz, mal bei Schratiger, mal zwischen den beiden auf der riesigen Sofalandschaft, die wie eine pinke Badeinsel das himmelblau getünchte Wohnzimmer füllte.  „Die Farbe kann so bleiben, aber was machen wir mit der Insel? Die muss raus, wenn ich nächste Woche komme.“

„Werden wir das nicht bereuen?“, Schratiger runzelte die Stirn, wie er immer die Stirn runzelt. Kein Wunder dass sie inzwischen so faltig ist. Bald nenn ich ihn Faltiger.

„Unser Elysion bleibt.“ Kauz war, wenn es ihm drauf ankam, sehr bestimmend. Wir einigten uns also darauf, dass die Insel blieb, Schratiger ins Wohnzimmer ziehen würde und ich sein Zimmer bekäme. Ich brauchte meinen Schreibtisch. Und Schratiger war ohnehin viel unterwegs, machmal monatelang. Sein Bücherregal konnte bei mir stehen bleiben. Seine Gitarre lag sowieso meistens griffbereit unter der Insel.

Am Abend meines Einzugs kochte Kauz sein berühmtes Curry und die erste offizielle WG-Nacht wurde eine der schärfsten, die wir je feierten. Wir stießen in der Küche mit Sekt an, während das Essen noch vor sich hin köchelte. Ich zog mich unvermittelt aus und ließ meine Klamotten einfach auf den Küchenboden fallen. Kauz wollte sich sofort den Pulli über der Kopf ziehen, aber ich hinderte ihn daran und verfügte: „Ihr nicht. Noch nicht.“ Schratiger begriff den Reiz solcher Spiele und ich ahnte, dass da mehr zu holen sei, wenn es an der Zeit wäre. Kauz war damals noch unmittelbarer, drängender und gleichzeitig unschuldiger. Jetzt knabberten und saugten sie jeder an einer Brustwarze und ich genoß dieses Amuse Gueule wohl am meisten. Wie alles, was mein damaliges Selbstbild „Heilige und Hure“ nährte.

***

Kauz + Schratiger – ein fragmentarischer multimdialer online Roman

Es begann 2021. Tatsächlich an einem Dienstag, maimorgenweich, aber sogleich. Auf der Metaebene: 

Intro

Die gröhlenden Synapsen feiern sich, als wären sie am Millerntor oder als hätten sie die ganze Nacht im Silbersack Gold geschlürft und zögen gleich weiter zum Fischmarkt. Die kriegen gar nicht mehr mit, dass heut Dienstag ist. Aber auf mich hört ja hier keiner.

Sie schon gar nicht. Sie war plötzlich einfach um mich, griff meine Hand und zog mich mit sich

in ihre Atemlosigkeit und in den anbrechenden Tag. Wir rennen also in etwas hinein, das mich, ich weiß es intuitiv,  für längere Zeit in Beschlag nehmen will. Zwei Männer tauchen ebenso unvermittelt auf. Offensichtlich gehören sie zu ihr.  Nach Sonnenaufgang und zweieinhalb Stunden Schlaf sind sie immer noch da, haben auf mich gewartet:  „Also schön, ihr schillernden Lichtgestalten, wer seid Ihr? Ich mache mir hier ein paar Notizen. Ist das okay für Euch?“ Sie nicken heftig. Und die Frau, deren Alter ich noch  nicht erahnen kann, beginnt zu erzählen. Ihre Stimme ist zwar ein wenig kratzig, aber im Tonfall dennoch ganz weich.

So fing das also an, mit Eliza, Kauz, Schratiger und mir.  Ich entwickelte zum ersten Mal Romanfiguren und eine große Nähe zu ihnen. Ich wollte keinen der drei zu kurz kommen lassen und schrieb in drei Strängen. Ich druckte ihre Berichte in kleinen Portionen und klebte sie auf ellenlange Streifen Architektenpapier. Ließ es, dort, wo sich ihre Erzählungen striffen teilweise überlappen, montierte Fotos von M dazwischen. Er kennt die drei natürlich von Anfang an. Sie wurden sichtbare Mitbewohner und begreifbar. Im September, auf Sizilien wurde mir beim Betrachten der wunderschönen Böden und Wände in meinem Airbnb klar, dass ich ihre Geschichten wie ein Mosaik zusammenfügen wollte. Und ich wollte sie so plastisch, so lebendig wie möglich machen, ihre Songs hinterlegen, Schratigers Photographien, Elizas Gedichte und Kritzeleien. Jetzt 2023, ist KI in aller Munde und es dürfte ein Leichtes werden, mir beispielsweise für Tonaufnahmen meiner drei Protagonisten keine Stimmen mehr von Freunden leihen zu müssen…was weiß denn ich….kleine Tailer wären bestimmt auch machbar. Mein Künstlerfreund HEM kam nochmal auf CD ROMs zu sprechen. So eine schicke Retrokomponente passend zum Zeitalter des Romans. Die Drei wurden über diese ganzen formalen Überlegungen ungeduldig. Völlig zurecht, denn sie haben ja noch Einiges vor sich:

Intermezzo

Nach dem Sturm, der Hamburg genau sechzig Jahre nach der Flutkatastophe heimgesucht hat, sitzen sie auf meiner Bettkante. Alle drei. Etwas zerzaust schauen sie aus und mokieren sich über meinen festen Schlaf. Sind einfach hereingeweht und kichern ein wenig verlegen, weil ihnen mal wieder erst im Nachhinen klar wird, was für einen eigentümlichen Umgang mit Intimität sie pflegen. „Ist schon ok,“ sage ich während ich mir das Schildrüsenpräparat vom Nachtisch angle,“wir kennen uns ja inzwischen gut genug.“ Sie wollten mal höflich nachfragen, wann ich mich ihnen wieder zuwende und sie ihre Geschichte zuende erzählen dürfen.

„Ich hör immer Ende,“ werfe ich gähnend ein. „Was soll das denn sein, Eurer Ende? Ihr lebt ja noch!“

„Ein Ende könnte ja sein, wir sterben alle bei einem Autounfall.“

„Das war jetzt supersensibel, Kauz. Ich fass es echt nicht.“ Eliza streichelt Schratigers Rücken.

„Abgesehen davon kann man so was genau einmal passieren lassen und Kundera war einfach dreißig Jahre schneller.“ Wenn Schratiger trotzig ist, trumpft er gerne mit Wissen auf.

„Ihr glaubt Euch doch ständig am Ende! Hier ein Endpunkt, wenn Hanns Eliza bittet, ihrem Herz zu folgen. Da ein Endpunkt, wenn Schratiger aufsteht ohne mit Eliza zu schlafen. Und das tut er ja nicht nur einmal. Ein anderer ,wenn Kauz auf dem Dach steht und Aenne folgen will, sich dann aber doch für einen Herzinfarkt entscheidet, weil das  nicht so eine Sauerei ist. Außerdem muss man ja an die Kinder denken.“ Sie schauen betreten auf ihre Füße.

„Was haltet ihr also von zwei Wochen Sizilien im März? Wir setzen uns auf den Felsen an der Ortigia und besprechen das weitsichtig. Mit Meerblick. Ich müsste jetzt mal ins Bad.“

Auf dem Weg nach Catania habe ich am Stuttgarter Bahnhof  durch die Gucklöcher in den Bauzäunen geschaut und festgestellt, dass unsere Baustelle nicht weniger interessant wächst. Vor allem aber, dass wir zeitlich noch absolut im Rahmen liegen. Sehr beruhigend.

„Kauz, Schratiger, Eliza –  Auf geht’s! Wir lassen uns einfach beim Entstehen zusehen.“

Ohne Bilder keine Geschichten ohne Bilder

Alle Photographien sind mehr als großzügige Leihgaben von Matthias Tegeler, der sagt: „Ich mag lieber Bilder über etwas als von etwas.“ 

Alle Texte sind von Judith Sumalvico, die sagt: „Ich bin ein Flusskind.“

~ auf einer Ruhrinsel entstanden ~ am Rhein geboren ~  aufgewachsen an Neckar und Aller  ~ in der Maggia schwimmen gelernt ~ an der Oker spritzen geübt ~ an der Donau Haare gelassen ~ an der Weser Sprünge  gewagt ~ lange elbkinderreich verankert ~ unterwegs ins Ionische Meer

test

Exil


Richard Löwenherz regiert aus Uppsala über eine handvoll Gaukler, die er online in aller Welt aufgetrieben hat. Wenn Sie keine Vorstellung davon haben, wie es in Uppsala aussieht, weil Sie noch nie dort gewesen sind: Es spielt keine Rolle. Richard würde sich, könnte er es noch, ins Fäustchen lachen und zwinkernd sagen: „Ich weiß das doch auch schon gar nicht mehr.“

Beschränken Sie sich also einfach auf das Zimmer, in dem Richard an seinem Rechner sitzt und die Fäden nur noch sprichwörtlich in der Hand hält. Im Winter wird es kaum hell, im Sommer kaum dunkel. Richard komponiert auf drei Monitoren ein Livetriptychon. Sehr einfach gesagt, auf den Außenflügeln kommen ungefiltert Videosequenzen aus aller Welt an: links Leiden, rechts Rosen und in der Mitte fügt Richard, best of eingehendem Material, einen fulminanten Reigen zusammen. Um den immensen technischen Aufwand bewältigen zu können, kommen vormittags ab zehn Studierende der Informatik und der Ästhetik ins Haus. Die Internetseite des Livestreams ist täglich zweimal zwei Stunden online, von elf bis eins und zwischen achtzehn und zwanzig Uhr.

Sie verfügt inzwischen über ein umfangreiches Archiv, auf das Fans in den Sendepausen zugreifen können. Richards Seite findet großen Anklang bei Kunst- und Kulturschaffenden aus aller Welt.

Mitglieder aus Richards ehemaligem Ensemble, inzwischen auch Schauspielschülerinnen und Tänzer aus ganz Europa, treten online mit ihm in Kontakt. Die einzige Bedingung, unter der sie an der Installation teilnehmen dürfen, ist, dass es ihnen gelingt, ihre kleine Episode so zu inszenieren, dass sie die Aufmerksamkeit und vor allem die Kameras von Zeugen auf sich zieht. Richards Geliebte, Tyche, ist die beste Regieassistentin, die er je hatte.

Die Hashtags, unter denen oft nur Minuten später ein Foto oder Video gepostet wird, verlinkt Richards Team über seinen Instagramaccount auf die Seite des Triptychons. Rechts sehen Sie

eine junge Frau, die vor etwa sieben Minuten barfuß in einem langen weißen Kleid auf die Mitte eines mit barocken Palästen umstellten Platzes lief. Dort hob sie anmutig ihre Arme, sie ist Tänzerin, drehte sich mit schwingendem Rock exakt ein mal um sich herum, setzte ihren Weg fort und verschwand in einer der Gassen. Das Video war umgehend unter den ## palermo, quattrocanti, und cinderella veröffentlicht worden. Auf dem linken Flügel des Triptychons übergibt sich ein junger zartgliedriger Veganer gegen eine Hausecke. Er hatte einen beliebten Markt aufgesucht, dessen Liveschlachtungen täglich hunderte Touristen in einer Mischung aus Ekel und Faszination anzogen. Auf dem mittleren Monitor animiert einer der Studenten die paarweise besetzten Gondeln eines klappriges Holzriesenrads, das sich schneller und schneller dreht. Die Gondel reißen nach und nach aus und verschwinden am linken Bildrand. Richard wählt mit seiner Hightech-Umfeldsteuerung Vivaldis Sturm als Untermalung aus seiner Playlist. Seiner Tänzerin in Palermo meldet er per Sprachcomputer den Erfolg ihres Auftritts zurück: „Schön, dass Du wieder mal dabei warst, Lucia. Iss ein Pistazieneis für mich mit.“

Lucia sendet ein grünes Herz zurück. Es klingelt und Richard öffnet seiner Pflegerin die Tür mittels Kopfmaus. Sie sorgt fürs leibliche Wohl, die jungen Leute schickt sie in die Mensa und seinem Magen eine Portion durch die Sonde. Dann kümmert sie sich darum, dass er seine Siesta liegend einhalten kann. Wenn Sie keine Vorstellung davon haben, wie viele Klicks, Likes und Follower Richard Löwenherz hat, so spielt das ebenfalls keine Rolle. Sie haben jetzt eine Vorstellung seiner Stärke.

Teatro del Sole

 

Richard inszeniert eine neue Art des Straßentheaters, zeitgenössisch, also virtuell.

Die achteckige Bühne der Piazza Vigliena wird von aufgeregten Statisten belagert.

Lucia betritt sie am späten Vormittag des 3. September, die Sonne steht beinahe im Zenit. Nach und nach werden die jegliche Klischees darbietenden Komparsen ermattet in die vier sich gegenüberliegenden Gassen abgehen und Lucia die Piazza für eine einzige Pirouette auf ihrem Weg von Ost nach West freigeben.

Sie arbeitet inzwischen so lange mit Richard, dass sie genau weiß, was er von ihr erwartet.

Also bleibt sie am äußersten Rand malerisch zwischen gelben E-Scootern und einem Fiaker stehen und beobachtet das bunte Treiben. Ihre Aufgabe besteht darin, zwischen all diesen Leuten geeignete Spielpartner zu finden.

Mit ihrem Telefonino sendet sie Richard per Videocall allerlei Szenen. Direkt neben ihr tritt soeben eine Dame vorwitzig aus einer Gruppe älterer Französinnen, wie deren Klassensprecherin, hervor. Beherzt hält sie einen jungen Stadtführer an. Aus, für die Dame, unverständlichen Gründen, erkennt er sie nicht sofort wieder, das wird Lucia aus den Wortfetzen klar, die zu ihr herüberfliegen. Sie versteht, dass der Mann die Damen gestern auf ihrem Spaziergang über den Mercato Ballarò begleitet hat. Lucia gelingt es, seinen Blick einzufangen und sein genervter Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein amüsiertes, entzücktes, Lucia findet sogar entzückendes, Lächeln. Die Dame fühlt sich augenblicklich jünger, sie spannt ihren Körper, korrigiert ihre Aufrichtung. Und der große Mann mit dem schulterlangen sonnenblonden Haar tritt in winzig kleinen Schritten näher in Lucias Richtung. Er scherzt inzwischen lebhaft mit der Dame, während seine Augen beginnen, Lucia eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Der Fiaker fährt an, muss jedoch noch einmal anhalten, weil dem jüngsten Touristen der Fuhre der Schnuller aufs Pflaster gefallen ist. Igitt. Als Lucia wieder freie Sicht hat, sind der Stadtführer und die Damen verschwunden. Dafür wuchtet gerade ein Mann sein neongelbes Bierfässchen, welches seine Storchenbeine, natürlich in zu kurzen Hosen, nicht länger durch die Mittagshitze balancieren können, in ein azurblaues Dreirad. Lucia bleibt keine Zeit, der verpassten Geschichte des Stadtführers hinterherzuhängen, sie schickt umgehend das quietschvergnügte Farbspiel nach Uppsala und weiß, wieviel Spaß Richard daran findet.

Eine junge Frau, beladen mit einem würfelförmigen Geschenkpaket in rosa-orange, drängelt sich eilig zwischen den motorisierten Droschken hindurch. Um ihr linkes Handgelenk sind die absurd langen bunten Bänder eines Heliumballons geknüpft. Er ist durchsichtig und aus seinem Innern blickt ein Einhörnchen, wie aus seiner Fruchtblase, verwundert auf Sonnenhüte oder gerötete Kopfhaut. Es hüpft in zwei Metern Höhe im Rhythmus der hastigen Schritte am unteren Ende seiner Nabelschnur durch die Mittagshitze. Lucias Kamera bleibt in den oberen Etagen der Manege hängen und grüßt dort kurz die Majestäten in ihren marmorierten Pluderhosen.

Im ersten Rang des Palazzo Castellammare betreten zwei lachsfarbene Damen ihre Loge und grüßen gemeinsam mit mit Philipp IV unter Aufsicht von Palermos dienstältester Patronin, Olivia, über den Platz. Lucias Blick gleitet an der Fassade herunter wie schmelzendes Eis an der Waffel. Ein Schweißtropfen rinnt ihr hinterm rechten Ohr über den Schwanenhals und findet seinen Weg über die kleine Stufe des Schlüsselbeins in ihr Dekolletée. Und da sieht sie ihn. Sie ruft aufgeregt in ihr Smartphone: „Ich hab ihn! Ein schöner Fotograf. Sitzt im Schatten am Herbstbrunnen. Leicht angegraut, hochkonzentriert, wartet wie eine Schlange und dann: klickklickklickklick.“

Dann los, Lucia, tanz ihm ins Bild. So fangen Geschichten an!“

Lucia hängt sich das Telefon wie ein Handtäschchen über die Schulter, ihre glitzernden Flipflops stellt sie säuberlich auf den Stufen des Winter-Brunnens ab und schreitet in ihrem weißen, fast bodenlangen Kleid mit Spaghettiträgern betont langsam mitten auf die Bühne. Er musste sie sehen. In der Mitte des Platzes hebt sie, angeführt von den Ellenbogen, beide Arme zur Sonne. Sie spreizt die Finger, als strahle sie ihr von unten entgegen. Lucia dreht sich, gerade schnell genug, dass ihr Rock fliegt, genau einmal um sich selbst und geht dann weiter auf die Stufen des Brunnens zu, der dem Sommer gewidmet ist. Über die Schulter gewendet, versichert sie sich für eine Sekunde des Erfolgs ihres Fotografen. Ja, Richard würde sie in wenigen Minuten auf Instagram, #palermo, eventuell #cinderella oder #cenerentola finden.

Scherzo


Scherzo [’skerʦo] (Mehrzahl Scherzi) ist eine seit 1781 bestehende Bezeichnung für eine rasche ausgelassene musikalische Satzform im 3/4- oder 3/8-Takt und einer der vielen Italianismen der deutschen Musiksprache


Frühmorgens schickt der Sonnenkönig seine Depeschen und mit etwas Glück erhältst auch Du eine Einladung.

Er lässt nur nachts aufspielen und in absoluter Dunkelheit. Alle Damen, in raschelnde Seide geschnürt, werden, da sie maskiert sind, von ihrer Begleitung – das kann auch eine vermeintlich grausame Herzogin sein – an ihre Plätze geführt. Dann dürfen dreizehn olivfarben geschminkte Feen, gewandet in durchsichtige goldene Schleier, die Lichter in den Kandelabern löschen. Dieser reizende Anblick der sich auf Zehenspitzen reckenden Nymphchen, die mit geschlossenen Augen sanft alle Kerze ausblasen, bleibt den Damen vorenthalten, die erst auf einen kleinen Händedruck hin die glatten Schleifen ihrer Augenbinden lösen.

Und erst dann setzt eine brausende Musik ein, die wie ein tiefer Wind sich zu Sturm und Gänsehaut aufbaut, um mit einem sehr hohen, Sekunden stehenden, Ton die Sonne aufzurufen, die ohne Dämmern, ohne Aufgang gleißend und von erschütterndem Durchmesser das schwarze Zelt erfüllt. Ein kleiner sehniger Mann mit Frack und halbem Zylinder, dem er eine Krone übergestülpt hat, schreitet wie ein lebendiger Scherenschnitt in die Mitte des Sonnenrunds. Voilà: der König. Treuer Diener seines Volkes. Und niemand erhebt sich. Er begrüßt seine Gäste aufs Artigste mit tiefen Verbeugungen und Höflichkeiten, die sich am äußersten Rand des Spotts halten, nimmt einen tiefen Atemzug und bedankt sich für das Bouquet, welches die Luft im Zelt schwängert. Nach einer Kunstpause, die er den Damen einräumt, um sich zu räuspern und zurechtzurücken, beginnt er, die allen bekannte Geschichte der beiden Liebenden zu erzählen, die an diesem Abend Leander und Leonore, an einem anderen dann vielleicht Elaphos und Elaphina heißen, ganz wie es seine Launen oder der Duft des Abends ihm einflüstern. Die Damen beten die immer gleichen Verse halblaut mit, als raunten sie ihr Bekenntnis in der Kathedrale. Die Herren und Herzoginnen schließen genußvoll die Augen, und betten ihre Ohren in die leisen Stimmen, die wie ein Mund sprechen und sich zu einem dichten Klangteppich ineinander verweben. Dabei legen sie ihre Hände rechts und links auf ein seidiges Knie, welches sie mit sanftem Druck etwas zu sich heranziehen.

Nach diesem ersten Aufzug spielen ätherische Wesen noch ätherischere, fadendünne Klänge auf filigranen, gläsern anmutenden Instrumenten. Die Damen fächern sich Luft zu und nippen am Perlwein. Die Herren vertreten sich die Beine und rauchen sich vor dem Zelt unter tausenden Sternen aus langen Pfeifen Mut oder Langmut an.

Die Herzoginnen aber suchen die Feen in ihren Garderoben auf. Man erzählt sich, dass sie sie dort an die Stühlchen vor ihren Schminkspiegeln fesseln, damit sie sich bei Weinen zusehen können, während sie die ferne Musik hören.

Dann zieht der König mit seiner Trompete einmal rund um das Zelt und umrundet es ein weiteres Mal mit seinem Gefolge, bis er es ins Innere zurückführt. Die Herren und Herzoginnen nehmen beliebig neue Plätze ein und sobald alle sitzen, drehen Livrierte den schweren Sonnenschild um und augenblicklich sind alle in das Dunkel des Anfangs gehüllt. Die Saaldiener ziehen sich hinter lange Zeltbahnen zurück. Man hört ein gefallenes Glas klirren und ahnt einen kleinen Tropfen Blut auf der Zunge der Dame, die sich beim Aufheben an einer Scherbe geschnitten hat. Vielleicht lässt sie auch den Herrn zu ihrer Rechten oder Linken davon kosten.

Und so beschäftigt, hat dieser nicht bemerkt, wie sich ein waagerecht schwebendes Seil leuchtend weiß vor der schwarzen Zeltwand aufspannt. An jedem Ende fest gehalten von einer Hand, an der auf der einen Seite Leander hängt, in einer tiefen Hocke gut verankert, und an der anderen Seite Leonore zieht, als wolle sie Leander den Arm auskugeln. Der aber lässt sie sich bis zur Erschöpfung abarbeiten. Erst als sie matt auf den Boden sinkt, ohne jedoch ihr Ende des Seils loszulassen, erhebt er sich zu stattlicher Größe. Er singt und seine Bässe lassen das Zelt und alle darin angespannten Nerven vibrieren. Ho perso il cuore e questo amore non è possibile per me, non è possiblile, non è possibile, non è possiblie per me.

Die Großmutter hat es mir so übersetzt: Sein Herz sei verloren, zu lieben sei ihm unmöglich. Und Leonore? Hält kauernd, eine Oktave höher, über seinen vielen Takten einen einzigen schmerzenden Grundton. Als Leander endet, lässt sie den Ton eine Oktave höher klettern und dann eine unerträgliche weiter, bis sie keine Luft mehr hat. Dann werden beide vom Schwarz verschluckt und das Seil hängt lächerlich in der Stille. Das Publikum wagt kaum zu atmen. Und in der Leere hören wir, wie sich Leanders belegte Stimme ins Dunkel tastet: Sei ancora lì? Und Leonore lacht unsichtbar und antwortet hysterisch: Cosa ne pensi. Was Großmutter mit: „Was denkt sich der Idiot“ übersetzte. Dann folgen ihren Liebesschwüren und seinem Non-è-possibile ein neues Crescendo ihres Schmerzes, das sich ins Schweigen schraubt. Und dieser ganze Akt, das ganze Geziehe wiederholt sich in einer bettelnden, einer flehenden und einer mit dem Tode drohenden Variation. Die Damen echauffieren sich und bekommen nicht genug. Luft wird dünn. Die Herren würden allzu gerne einen weiteren Zug aus den Pfeifen nehmen und weil das nicht möglich ist, überlegen sie stattdessen, in welcher Währung sie sich die Ausgaben des Abends erstatten lassen und von wem.

Der Abend aber, wie der König selbst, denkt sich, der Morgen käme früh genug und will noch lange bleiben und lässt die Liebenden noch eine Weile treiben. Seht Leonores neuen Spielen zu! Sie hat das Seil um einen unsichtbaren Stamm geschlungen, ist wundersam hinaufgesprungen, ja fast geschwebt – die eine Dame in der erste Reihe bebt einem recht unverschämten Kuss ins Dekolleté entgegen.

Und Leonore? Lockt oben auf dem Seile tanzend Leander, es ihr gleichzutun.

Er höhnt, er könne doch nicht tanzen und sei auch viel zu schwer-mütig, aber nicht mutig, Jedoch er plänkelt hin und her und hört sich selbst ganz gerne zu und springt hinauf im Nu. Und Leonore? Wähnte sich fast schon am Ziel, als sie fiel. Sie flucht. Er triumphiert: non è possibile, non è possibile, non è possibile per me. Dann vollführt er, einem Hofnarren gleich, eine Rolle rückwärts auf dem Seil und springt geschmeidig und behände an seinem Ende, das die ganze Zeit frei schwebte, hinunter in ein Nichts, gerade noch im Flug das Seil ergreifend. Zurück bleibt, wie am Anfang, nur seine Hand am Tau. Und Leonore? Knotet ihr Ende vom Stamm und zieht und zieht und zieht ihren Leander auf den Plan. Er donnert: Ho perso il cuore e questo amore non è possi… und so weiter. Leonore stimmt, wie könnte es anders sein, ihr Klagen an und quält uns alle durch den nächsten Takt.

Leander mag, ähnlich den Herren, die im Publikum das Hemd durchschwitzen, zermürbt sein, am Ende seines Seils.

Er ergibt sich. Die Damen seufzen und atmen dem glücklichen Ende entgegen.

Und Leonore? Trällert sich in einen Rausch und schmiedet Pläne und dreht sich, und dreht sich und dreht sich, das Seil um ihren Leib windend, ihrem Geliebten entgegen und erstickt, noch ehe sie ihn erreicht.


Der König höchstpersönlich, dieser kleine drahtige Mann, trägt ihren Leichnam aus dem Zelt. Leander badet unterdessen schon in einem tosenden Applaus, die Damen reißen sich die hochgeschobenen Brüste aus dem Mieder. Der König bringt die kleinen Feen wieder. Und Leonore? Darf von oben aus der Kuppel wie aus Ewigkeiten schweben. Es gibt Musik und Tanz, unter Sternen und Küssen bis in den neuen Tag hinein. Dann sammelt ein fliegender Bote mit Fanfaren und gefederten Schuhen die neuen Depeschen beim König ein.