Die Hausärztin erfasst meinen schlechten Zustand während ich vom Warte- ins Sprechzimmer humple. Nach einem sehr guten Tag, gestern, an dem ich es gleich wieder übertrieben hatte und an die Alster geradelt war, bin ich tatsächlich übel dran. Sie zeigt sich erschüttert, mich in so schlechter Verfassung wiederzusehen und reitet, noch während ich Platz nehme, im Galopp durch meine Medikamentenliste. Ich spüre ihren Zeitdruck. Unsere Augen treffen sich kaum für eine Sekunde. Sie macht alles gleichzeitig: hört, dass ich eigentlich, wie verabredet, wegen meiner Schilddrüsenwerte da bin, schiebt das mit einer Handbwegung beiseite, während sie das Präparat neu rezeptiert, um sich meiner Schmerzmedikation zuzuwenden. Dass ich zwischenzeitlich in der Schmerzambulanz war, quittiert sie mit einem „Ah ja“ und tippt in Windeseile auf einen kleinen Taschenrechner ein, der griffbereit neben der Tastatur liegt. Sie rechnet den Morphingehalt meiner Tabletten in den eines Pflasters um und verordnet es. Es versorge mich kontinuierlicher, dröhne mich weniger ab. Dann holt sie aus: Ich solle einen Pflegegrad beantragen und häusliche Pflege, die benötigten Formulare, öffnet sie sogleich auf dem Bildschirm und dreht ihn zu mir herum. Zudem bräuchte ich mindestens einen Gehstock, einen Hocker für die Dusche, einen Haltegriff. Es sei gefährlich, mit meiner neurologisch bedingten Gangunsicherheit unversorgt zu bleiben. Wenn ich nun stürzte und mir das Becken bräche, wäre Holland erst recht in Not. Mich beschleicht ein schlechtes Gewissen. Weder von der Begebenheit auf der Langen Reihe habe ich ihr erzählt, noch davon, wie schlimm ich in der Küche umgeknickt war. Wenn ich vor Schmerzen nicht mehr gut gehen und Rad fahren könne, würde sie mir jetzt gerne einen Rollstuhl verordnen, dann könne mein Sohn mich rausfahren. Ich bin fassungslos und kann die Tränen nicht zurückhalten. Sie rudert zurück und meint, das müsse ja nur übergangsweise eine Option sein.
Ich wende schluchzend ein, dass ich so fit und mobil bleiben möchte, wie irgend möglich und endlich die Ursache behandelt haben will, nicht die Symptome. Erkläre, dass ich hoffe, die Neurochirurgen hätten Anfang Juli eine Idee, wie sie mir helfen könnten. Daraufhin ruft sie kurzer Hand den diensthabenden Neurochirurgen an, fragt, ob er mich heute – es ist Freitag – noch angucken kann, während sie gleichzeitig aus dem Raum rast um das nebenbei handschriftlich ausgefüllte Betäubungsmittelrezept abzustempeln.
Die knappe Antwort des Chirurgen lautet: Wenn ich keine Lähmungserscheinungen habe, nicht inkontinent würde, müsse ich auf den Termin in zwei Wochen warten, sie hätten zu viele Notfälle. Wir einigen uns auf die Verordnung eines zusammenklappbaren Gehstocks und darauf, dass ich mir bei meiner Krankenkasse, alternativ zur Beantragung eines Pflegegrades, das entsprechende Formular zur Verordnung einer Haushaltshilfe herunterlade.
Als ich die Praxis verlasse, bin ich wie durch die Mangel gedreht. Ich schleppe mich durch den leichten Sommerregen nach Hause auf mein Sofa und breche in Tränen aus. Es dauert Stunden, bis ich begreife, was mir widerfahren ist. Stunden, in denen ich immer wieder losweine, aus Angst, nie wieder normal gehen zu können, geschweige denn über meinen geliebten Felsen ins Meer runter zu kraxeln. Oder fast noch schlimmer: nie wieder radeln zu können. Vor nicht allzulanger Zeit hatte meine Älteste noch amüsiert verkündet, ich führe bestimmt noch mit 80 täglich auf meinem Fahrrad durch die Gegend. Wie niedlich hatten wir alle mich, als ein energisch das Rad ausbalancierendes Mütterchen, vor Augen. Ich heule Rotz und Wasser. Schließlich aus Angst davor, für immer mit diesen Schmerzen und diesen starken Medikamenten klarkommen zu müssen. Ich bin doch jetzt, nach sechs Monaten, bereits völlig zermürbt. Mir wird immer banger und elender. Das ist doch nicht mein Leben. So will ich dann doch einfach nicht mehr. Und wofür soll ich dann überhaupt zur Stammzelltransplantation antreten? Wofür diese Hochdosischemotherapie in Kauf nehmen? Und warum redet keiner meiner Ärzte und Ärztinnen mit mir über diese Befürchtungen? Warum fragt mich niemand nach meinen Ängsten und danach, was für mich Priorität hat oder was meine Ressourcen sind ?
Erst spät am Abend wird mir klar: Meine Hausärztin hat mitsamt ihren großzügigen Hilfsmaßnahmen ihre eigene Hilflosigkeit über mir ausgegossen. Für ein richtiges Gespräch meinte sie keine Zeit zu haben. Dabei hätten wir uns die ganzen Erklärungen zu Pflegegrad und Rollstuhl sparen können. Mit Sicherheit hätte ich dann auch nicht vergessen, sie um ein neues Rezept für Physiotherapie zu bitten.
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ALAYINIZI SIKCEM RAHAT YOK SIZE
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