send me a ticket for an aeroplane
Ich sitze vor dem UKE Haupteingang in einem Sanitäterzelt der Johanniter. Um zu meiner Befundbesprechung auf die Neurochirurgische Station zu dürfen, warte ich hier auf das Ergebnis meines Coronatests. Mein Noch-Ehehmann F begleitet mich. Sein Test ist schon fertig, meiner dauert noch. Die Zeit läuft uns davon, ziemlicher Andrang hier heute Vormittag. Ich bitte ihn, schon mal vorzugehen, um auf Station Bescheid zu sagen, dass wir den Termin nicht vergessen haben.
Also verbringe ich ein paar Minuten alleine in der klammen Kälte. Um mich gegen die wachsende Nervosität abzuschotten, mache ich mir Musik an. Gleich werde ich erfahren, was für Krebszellen das Labor aus der entnommenen Gewebeprobe identifiziert hat.
Ich höre in Dauerschleife meinen aktuellen Lieblingsssong: „The Letter“ von The Box Tops aus dem Jahr vor meiner Geburt. Einer der kürzesten Songs der Popmusikgeschichte. Ob meine Mutter ihn mit mir im Bauch gehört hat? Genau in diesem Moment schreibt T aus Melbourne, will wissen, wie es mir geht. Ich antworte mit dem Link zum Lied und er schickt ein Herz und sagt, das sei einer seiner liebsten Songs. Der Mann ist Musiker, ein wandelndes Musiklexikon. Ich freu mich erstens, dass er meine Auswahl mag und zweitens, dass er ausgerechnet in diesem angespannten Moment an mich denkt, wir diese Verbindung miteinander haben, obwohl er in Melbourne bei seiner anderen J ist. Dann darf ich losmarschieren, hoch in den dritten Stock, auf meine Silvesterstation. Die Musik bleibt im Ohr, bis ich oben angekommen bin. Ich kenne den Arzt nicht, der den Befund mit mir besprechen will. Er ist aber nicht weniger einfühlsam als sein Kollege, der mich aufgenommen hat. Er versucht erst mal einen guten Kontakt herzustellen, in dem er mir zeigt, dass er sich in meinen Fall eingelesen hat. Ich unterbreche ihn, nach ein paar einleitenden Sätzen und bitte ihn, mir einfach zu sagen, was für einen Zelltyp sie gefunden haben und zu welcher Diagnose das führt. Ich erwähne, dass ich Krankenschwester war und mir ein ziemlich genaues Bild machen kann und auch machen möchte. Dann sagt er es: „Sie haben ein Multiples Myelom, Frau Sumalvico“. Fs Augen weiten sich vor Schreck. Natürlich hatte ich ihm erzählt, worauf es hinauslaufen könnte. Da ist es also raus. Der Arzt ist erleichtert und merkwürdigerweise bin ich es auch. Er hat bereits – und das schätze ich sehr an dieser Abteilung für Neurochirurgie – einen Termin in der Myelomsprechstunde der Klinik für mich vereinbart. Er erklärt mir, dass diese Diagnose in aller Regel zusätzlich mit einer Knochenmarksbiopsie gesichert wird. Das sei jetzt der nächste Schritt. Den Tumor im Kreuzwirbelknochen würde man wahrscheinlich am besten bestrahlen. Den Termin in der Sprechstunde nehme ich erst mal an. Aber mir ist in den letzten Tagen eingefallen, dass ich aus meinen eigenen beruflichlichen Bezügen einen niedergelassenen Onkologen kenne, der seit Jahren am Myelom forscht. Natürlich werde ich ihn anschreiben.
F und ich radeln wortlos nach Hause. Nun steht es also fest. Ich bin schwer krank. Unheilbar, wenn man es genau nimmt, auch wenn die neuesten Entwicklungen in der Krebstherapie gerade für die Behandlung des Myeloms unglaubliche Fortschritte machen. Natürlich hatte ich sicherheitshalber schon mal angefangen, mich über das Plasmozytom zu belesen. Ein Plasmozytom ist die lediglich auf einen Knochen beschränkte Variante dieser Krebserkrankung, die zu den Blutkrebsen gehört.
Ich habe mich an an den Einsatz auf der hämatologisch-onkologischen Station während meiner Ausbildung erinnert. Dort hatte ich sogar den praktischen Teil meiner Krankenpflegeprüfung abgelegt. Am deutlichsten erinnere ich mich an eine an Leukämie erkrankte Frau, Mutter einer 16- jährigen Tochter und ihren Mann. Die beiden kamen jeden Nachmittag zu ihr und blieben bis spät in den Abend. Als ich eines morgens zum Frühdienst kam und den familieneigenen Firmenwagen vor der Station sah, wusste ich, dass sie im Sterben lag. Sie hatte es allerding schon geschafft, als ich die Station betrat. Solche Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen habe ich nie vergessen. Nun werde ich selbst Patientin. Bin es ja bereits. Jetzt aber hat der Krebs einen Namen. Ich bin erstaunlich ruhig, weine nicht. Auch nicht zu Hause. Alles was ich will, ist noch einmal zurück auf die geliebte Ortigia, bevor ich mich, wenn überhaupt, in die Mühlen der Medizin begebe. Die geradezu fieberhaften Überlegungen, wie und wann das zu realisieren ist, verlagern das Problem in freundlichere Gefilde. Send me a ticket for an aeroplane.
Eine Antwort
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