Um 21 Uhr werde ich in die Anästhesieabteilung im Haupthaus gebracht. Ich musste mir ein OP-Hemd anziehen und in der Schleuse eine OP-Haube, als würde ich operiert. Dabei soll mir ein Zentraler Venenzugang (ZVK) gelegt werden. Ich habe gewaltige Angst davor, denn dieser Katheter wird entweder durch die große Halsvene oder durch die unterm Schlüsselbein direkt bis vors Herz geschoben. D.h., mir wird gleich in den Hals (oder kurz darunter) gestochen. Es fühlt sich nach Schlachtung an. Nach anstechen. Ich kann mich mit keinem derben Krankenschwesternhumor: „O’zapft is!“ selbst belustigen und darüber etwas distanzieren. Ich weiß, dass es notwendig ist, aber ich möchte es nicht im wachen Zustand durchmachen müssen. In der Anästhesieabteilung übernimmt eine Schwester mein Bett, schiebt mich souverän um mehrere Ecken in eine Art abgetrenntes Kinderzimmer voller Disney-Wandtattoos. Dort in die hinterste Ecke. Vorbei an einer halb entkeideten Frau, in großer motorischer und psychischer Unruhe, die hinter ihren hochgzogenen Bettgittern herumwühlt und recht verzweifete Laute von sich gibt. Ich liege durch einen Vorhang von ihr getrennt, höre sie jammern und stöhnen und dann, wie sie an den Bettgittern rackelt. Auf einmal höre ich es lange auf den Fußboden plätschern. Es reicht nach Erbrochenem und nerbenan ist Ruhe. Niemand schaut nach ihr – oder uns. Wir sind alleine im Dschungelbucheck der Kinderanästhesie. Nach einer Weile kommt ein Arzt, kleiner drahtiger Mann mit überdimensionierter schwarzer Brille à la Grönemeyer. Oder wie Frau Dr Pille mit der großen runden Brille aus dem DDR-Sandmännchen. Ich bin ja in der Kinderabteilung. Er zerrt mein Bett aus der Ecke, um mich in den goßen Saal zu schieben, der tagsüber postoperativer Aufwachraum ist. Er brüllt im Gehen nach einer Schwester, dass die Frau neben mir alles vollgekotzt habe und vielleicht besser nicht unbeobachtet bleiben solle. Als Anästhesist weiß er natürlich, dass so was grob fahrlässig ist und zu übelsten Komplikationen (Aspirationspneumonie) führen kann. Natürlich ahnt er nicht, dass ich das alles genau registriere und denke, in was für einen Saftladen ich geraten bin.
Ich sage ihm, dass ich große Angst habe und bitte ihn, mich in eine Kurznarkose zu versetzen, weil ich das im Wachzustand nicht aushalte. „Ja, ja, okay – seh’n wir gleich.“ Damit stellt er mich mit den Füßen voran an einen der Überwachungsplätze und eilt hinüber zu einem Mann, der schräg rechts hinter mir darauf wartet seinen ZVK zu bekommen. Ich bekomme alles mit, auch, dass er mehrfach wegen einer anderen Patientin, die ins Nierenversagen abrutscht, unterbrechen muss. Der ZVK des Mannes liegt erst nach dem zweiten Anlauf. Ich weine hemmungslos vor mich hin. Ich habe entsetzliche Angst. Als der Arzt zu mir kommt und eigentlich noch bevor er richtig da ist, schon mal mein Kopfende runterfährt, wiederhole ich meine Bitte. Er sagt, das ist in aller Regel nicht nötig. Ich werde das gleich einsehen, er betäube jetzt erstmal gründlich die Haut und ich würde den Einstich gar nicht spüren. Er will den ZVK unters Schlüsselbein legen. Das finde ich schon mal weniger schrecklich. Aber ich bin trotzdem schockiert, dass er meiner Bitte nicht nachkommt. Es wäre doch ein Klacks für ihn, zumal ich einen Zugang im Arm habe.
Eine sehr nette Krankenschwester merkt, dass es mir richtig dreckig geht, sie nimmt meine Hand und fordert mich auf, ihr was zu erzählen. Ich kann nicht. Deswegen erzählt sie mir irgendeinen Scheiß von ihren beiden Wellensittichen. Ich denke kurz an Hansi und Peti, die Vögel meiner Großeltern. Dann spüre ich, wie der Doktor Gernegroß den Katheter in mich sticht und in den Thorax schiebt, mir bleibt der Atem weg, ich bekomme Beklemmungen in der Brust, werde panisch, kralle mich fest in die Hand der armen Schwester. „So, schon fertig,“ sagt der Arzt triumphierend. Hat er mir bewiesen, dass ich mich gar nicht hätte anzustellen brauchen. Und dann flucht er. Der Führungsdraht ist irgendwie verklemmt und lässt sich nicht herausziehen. Er ruckelt an dem Ding rum, mein Herz stolpert, ich bekomme kaum mehr Luft. Dann reißt er den Draht mitsamt Katheter mit einem gewaltigen Ruck heraus. Ich schreie laut. Er sagt zur Schwester: „Wird jetzt doch Zeit für Propofol. Gib ihr mal.“ Das ist das Letzte, was ich von ihm höre. Als ich wieder zu mir komme, liege ich noch immer in diesem inzwischen leeren Saal. Die Schwester schaut nach mir. Sie sagt, es tue ihr leid, dass das so unglücklich gelaufen ist. Dabei kann sie überhaupt nichts dafür. Ich weiß, dass ich inzwischen geröntgt worden sein muss, um den korrekten Sitz des Katheters, der jetzt natürlich doch in der Halsvene liegt, zu kontrollieren. Davon habe ich nichts mitbekommen. Der Anäsesthesist lässt sich nicht noch mal blicken. Ich bin voller Wut und Verachtung. Kleiner Mann, vermutlich voller Minderwertigkeitskomplexe, der sich ständig beweisen muss. Ich bin entsetzt, wie übergriffig Medizin sein kann. Aber ich erinnere mich daran, mich während und nach der Geburt meiner ersten Tochter ähnlich ausgeliefert gefühlt zu haben. Das ist morgen auf den Tag genau 32 Jahre her. Ich komme erst nach 23 Uhr wieder auf meiner Station an und kann leider nur mit dem Gedanken einschlafen, dass morgen das fiese Gift Melphalan durch den ZVK in mich laufen und mich über Wochen fertig machen wird.
Eine Antwort
Wieso Giftzwerge mit solch einem menschenverachtenden Wesen so einen Beruf ausüben dürfen, werden wir nie verstehen! Arme Freundin! So viel Leid, das nun aber bald vorbei ist! Nun wird es wieder gut, das Leben wartet! Dickes graues Herz!