ausgeliefert sein

25.09.2023

Um 21 Uhr werde ich in die Anästhesieabteilung im Haupthaus gebracht. Ich musste mir ein OP-Hemd anziehen und in der Schleuse eine OP-Haube, als würde ich operiert. Dabei soll mir ein Zentraler Venenzugang (ZVK) gelegt werden. Ich habe gewaltige Angst davor, denn dieser Katheter wird entweder durch die große Halsvene oder durch die unterm Schlüsselbein direkt bis vors Herz geschoben. D.h., mir wird gleich in den Hals (oder kurz darunter) gestochen. Es fühlt sich nach Schlachtung an. Nach anstechen. Ich kann mich mit keinem derben Krankenschwesternhumor: „O’zapft is!“ selbst belustigen und darüber etwas distanzieren. Ich weiß, dass es notwendig ist, aber ich möchte es nicht im wachen Zustand durchmachen müssen. In der Anästhesieabteilung übernimmt eine Schwester mein Bett, schiebt mich souverän um mehrere Ecken in eine Art abgetrenntes Kinderzimmer voller Disney-Wandtattoos. Dort in die hinterste Ecke. Vorbei an einer halb entkeideten Frau, in großer motorischer und psychischer Unruhe, die hinter ihren hochgzogenen Bettgittern herumwühlt und recht verzweifete Laute von sich gibt. Ich liege durch einen Vorhang von ihr getrennt, höre sie jammern und stöhnen und dann, wie sie an den Bettgittern rackelt. Auf einmal höre ich es lange auf den Fußboden plätschern. Es reicht nach Erbrochenem und nerbenan ist Ruhe. Niemand schaut nach ihr – oder uns. Wir sind alleine im Dschungelbucheck der Kinderanästhesie. Nach einer Weile kommt ein Arzt, kleiner drahtiger Mann mit überdimensionierter schwarzer Brille à la Grönemeyer. Oder wie Frau Dr Pille mit der großen runden Brille aus dem DDR-Sandmännchen. Ich bin ja in der Kinderabteilung. Er zerrt mein Bett aus der Ecke, um mich in den goßen Saal zu schieben, der tagsüber postoperativer Aufwachraum ist. Er brüllt im Gehen nach einer Schwester, dass die Frau neben mir alles vollgekotzt habe und vielleicht besser nicht unbeobachtet bleiben solle. Als Anästhesist weiß er natürlich, dass so was grob fahrlässig ist und zu übelsten Komplikationen (Aspirationspneumonie) führen kann. Natürlich ahnt er nicht, dass ich das alles genau registriere und denke, in was für einen Saftladen ich geraten bin.

Ich sage ihm, dass ich große Angst habe und bitte ihn, mich in eine Kurznarkose zu versetzen, weil ich das im Wachzustand nicht aushalte. „Ja, ja, okay – seh’n wir gleich.“ Damit stellt er mich mit den Füßen voran an einen der Überwachungsplätze und eilt hinüber zu einem Mann, der schräg rechts hinter mir darauf wartet seinen ZVK zu bekommen. Ich bekomme alles mit, auch, dass er mehrfach wegen einer anderen Patientin, die ins Nierenversagen abrutscht, unterbrechen muss. Der ZVK des Mannes liegt erst nach dem zweiten Anlauf. Ich weine hemmungslos vor mich hin. Ich habe entsetzliche Angst. Als der Arzt zu mir kommt und eigentlich noch bevor er richtig da ist, schon mal mein Kopfende runterfährt, wiederhole ich meine Bitte. Er sagt, das ist in aller Regel nicht nötig. Ich werde das gleich einsehen, er betäube jetzt erstmal gründlich die Haut und ich würde den Einstich gar nicht spüren. Er will den ZVK unters Schlüsselbein legen. Das finde ich schon mal weniger schrecklich. Aber ich bin trotzdem schockiert, dass er meiner Bitte nicht nachkommt. Es wäre doch ein Klacks für ihn, zumal ich einen Zugang im Arm habe.

Eine sehr nette Krankenschwester merkt, dass es mir richtig dreckig geht, sie nimmt meine Hand und fordert mich auf, ihr was zu erzählen. Ich kann nicht. Deswegen erzählt sie mir irgendeinen Scheiß von ihren beiden Wellensittichen. Ich denke kurz an Hansi und Peti, die Vögel meiner Großeltern. Dann spüre ich, wie der Doktor Gernegroß den Katheter in mich sticht und in den Thorax schiebt, mir bleibt der Atem weg, ich bekomme Beklemmungen in der Brust, werde panisch, kralle mich fest in die Hand der armen Schwester. „So, schon fertig,“ sagt der Arzt triumphierend. Hat er mir bewiesen, dass ich mich gar nicht hätte anzustellen brauchen. Und dann flucht er. Der Führungsdraht ist irgendwie verklemmt und lässt sich nicht herausziehen. Er ruckelt an dem Ding rum, mein Herz stolpert, ich bekomme kaum mehr Luft. Dann reißt er den Draht mitsamt Katheter mit einem gewaltigen Ruck heraus. Ich schreie laut. Er sagt zur Schwester: „Wird jetzt doch Zeit für Propofol. Gib ihr mal.“ Das ist das Letzte, was ich von ihm höre. Als ich wieder zu mir komme, liege ich noch immer in diesem inzwischen leeren Saal. Die Schwester schaut nach mir. Sie sagt, es tue ihr leid, dass das so unglücklich gelaufen ist. Dabei kann sie überhaupt nichts dafür. Ich weiß, dass ich inzwischen geröntgt worden sein muss, um den korrekten Sitz des Katheters, der jetzt natürlich doch in der Halsvene liegt, zu kontrollieren. Davon habe ich nichts mitbekommen. Der Anäsesthesist lässt sich nicht noch mal blicken. Ich bin voller Wut und Verachtung. Kleiner Mann, vermutlich voller Minderwertigkeitskomplexe, der sich ständig beweisen muss. Ich bin entsetzt, wie übergriffig Medizin sein kann. Aber ich erinnere mich daran, mich während und nach der Geburt meiner ersten Tochter ähnlich ausgeliefert gefühlt zu haben. Das ist morgen auf den Tag genau 32 Jahre her. Ich komme erst nach 23 Uhr wieder auf meiner Station an und kann leider nur mit dem Gedanken einschlafen, dass morgen das fiese Gift Melphalan durch den ZVK in mich laufen und mich über Wochen fertig machen wird.

Eine Antwort

  1. Wieso Giftzwerge mit solch einem menschenverachtenden Wesen so einen Beruf ausüben dürfen, werden wir nie verstehen! Arme Freundin! So viel Leid, das nun aber bald vorbei ist! Nun wird es wieder gut, das Leben wartet! Dickes graues Herz!

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Ohne Bilder keine Geschichten ohne Bilder

Alle Photographien sind mehr als großzügige Leihgaben von Matthias Tegeler, der sagt: „Ich mag lieber Bilder über etwas als von etwas.“ 

Alle Texte sind von Judith Sumalvico, die sagt: „Ich bin ein Flusskind.“

~ auf einer Ruhrinsel entstanden ~ am Rhein geboren ~  aufgewachsen an Neckar und Aller  ~ in der Maggia schwimmen gelernt ~ an der Oker spritzen geübt ~ an der Donau Haare gelassen ~ an der Weser Sprünge  gewagt ~ lange elbkinderreich verankert ~ unterwegs ins Ionische Meer

test

Exil


Richard Löwenherz regiert aus Uppsala über eine handvoll Gaukler, die er online in aller Welt aufgetrieben hat. Wenn Sie keine Vorstellung davon haben, wie es in Uppsala aussieht, weil Sie noch nie dort gewesen sind: Es spielt keine Rolle. Richard würde sich, könnte er es noch, ins Fäustchen lachen und zwinkernd sagen: „Ich weiß das doch auch schon gar nicht mehr.“

Beschränken Sie sich also einfach auf das Zimmer, in dem Richard an seinem Rechner sitzt und die Fäden nur noch sprichwörtlich in der Hand hält. Im Winter wird es kaum hell, im Sommer kaum dunkel. Richard komponiert auf drei Monitoren ein Livetriptychon. Sehr einfach gesagt, auf den Außenflügeln kommen ungefiltert Videosequenzen aus aller Welt an: links Leiden, rechts Rosen und in der Mitte fügt Richard, best of eingehendem Material, einen fulminanten Reigen zusammen. Um den immensen technischen Aufwand bewältigen zu können, kommen vormittags ab zehn Studierende der Informatik und der Ästhetik ins Haus. Die Internetseite des Livestreams ist täglich zweimal zwei Stunden online, von elf bis eins und zwischen achtzehn und zwanzig Uhr.

Sie verfügt inzwischen über ein umfangreiches Archiv, auf das Fans in den Sendepausen zugreifen können. Richards Seite findet großen Anklang bei Kunst- und Kulturschaffenden aus aller Welt.

Mitglieder aus Richards ehemaligem Ensemble, inzwischen auch Schauspielschülerinnen und Tänzer aus ganz Europa, treten online mit ihm in Kontakt. Die einzige Bedingung, unter der sie an der Installation teilnehmen dürfen, ist, dass es ihnen gelingt, ihre kleine Episode so zu inszenieren, dass sie die Aufmerksamkeit und vor allem die Kameras von Zeugen auf sich zieht. Richards Geliebte, Tyche, ist die beste Regieassistentin, die er je hatte.

Die Hashtags, unter denen oft nur Minuten später ein Foto oder Video gepostet wird, verlinkt Richards Team über seinen Instagramaccount auf die Seite des Triptychons. Rechts sehen Sie

eine junge Frau, die vor etwa sieben Minuten barfuß in einem langen weißen Kleid auf die Mitte eines mit barocken Palästen umstellten Platzes lief. Dort hob sie anmutig ihre Arme, sie ist Tänzerin, drehte sich mit schwingendem Rock exakt ein mal um sich herum, setzte ihren Weg fort und verschwand in einer der Gassen. Das Video war umgehend unter den ## palermo, quattrocanti, und cinderella veröffentlicht worden. Auf dem linken Flügel des Triptychons übergibt sich ein junger zartgliedriger Veganer gegen eine Hausecke. Er hatte einen beliebten Markt aufgesucht, dessen Liveschlachtungen täglich hunderte Touristen in einer Mischung aus Ekel und Faszination anzogen. Auf dem mittleren Monitor animiert einer der Studenten die paarweise besetzten Gondeln eines klappriges Holzriesenrads, das sich schneller und schneller dreht. Die Gondel reißen nach und nach aus und verschwinden am linken Bildrand. Richard wählt mit seiner Hightech-Umfeldsteuerung Vivaldis Sturm als Untermalung aus seiner Playlist. Seiner Tänzerin in Palermo meldet er per Sprachcomputer den Erfolg ihres Auftritts zurück: „Schön, dass Du wieder mal dabei warst, Lucia. Iss ein Pistazieneis für mich mit.“

Lucia sendet ein grünes Herz zurück. Es klingelt und Richard öffnet seiner Pflegerin die Tür mittels Kopfmaus. Sie sorgt fürs leibliche Wohl, die jungen Leute schickt sie in die Mensa und seinem Magen eine Portion durch die Sonde. Dann kümmert sie sich darum, dass er seine Siesta liegend einhalten kann. Wenn Sie keine Vorstellung davon haben, wie viele Klicks, Likes und Follower Richard Löwenherz hat, so spielt das ebenfalls keine Rolle. Sie haben jetzt eine Vorstellung seiner Stärke.

Teatro del Sole

 

Richard inszeniert eine neue Art des Straßentheaters, zeitgenössisch, also virtuell.

Die achteckige Bühne der Piazza Vigliena wird von aufgeregten Statisten belagert.

Lucia betritt sie am späten Vormittag des 3. September, die Sonne steht beinahe im Zenit. Nach und nach werden die jegliche Klischees darbietenden Komparsen ermattet in die vier sich gegenüberliegenden Gassen abgehen und Lucia die Piazza für eine einzige Pirouette auf ihrem Weg von Ost nach West freigeben.

Sie arbeitet inzwischen so lange mit Richard, dass sie genau weiß, was er von ihr erwartet.

Also bleibt sie am äußersten Rand malerisch zwischen gelben E-Scootern und einem Fiaker stehen und beobachtet das bunte Treiben. Ihre Aufgabe besteht darin, zwischen all diesen Leuten geeignete Spielpartner zu finden.

Mit ihrem Telefonino sendet sie Richard per Videocall allerlei Szenen. Direkt neben ihr tritt soeben eine Dame vorwitzig aus einer Gruppe älterer Französinnen, wie deren Klassensprecherin, hervor. Beherzt hält sie einen jungen Stadtführer an. Aus, für die Dame, unverständlichen Gründen, erkennt er sie nicht sofort wieder, das wird Lucia aus den Wortfetzen klar, die zu ihr herüberfliegen. Sie versteht, dass der Mann die Damen gestern auf ihrem Spaziergang über den Mercato Ballarò begleitet hat. Lucia gelingt es, seinen Blick einzufangen und sein genervter Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein amüsiertes, entzücktes, Lucia findet sogar entzückendes, Lächeln. Die Dame fühlt sich augenblicklich jünger, sie spannt ihren Körper, korrigiert ihre Aufrichtung. Und der große Mann mit dem schulterlangen sonnenblonden Haar tritt in winzig kleinen Schritten näher in Lucias Richtung. Er scherzt inzwischen lebhaft mit der Dame, während seine Augen beginnen, Lucia eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Der Fiaker fährt an, muss jedoch noch einmal anhalten, weil dem jüngsten Touristen der Fuhre der Schnuller aufs Pflaster gefallen ist. Igitt. Als Lucia wieder freie Sicht hat, sind der Stadtführer und die Damen verschwunden. Dafür wuchtet gerade ein Mann sein neongelbes Bierfässchen, welches seine Storchenbeine, natürlich in zu kurzen Hosen, nicht länger durch die Mittagshitze balancieren können, in ein azurblaues Dreirad. Lucia bleibt keine Zeit, der verpassten Geschichte des Stadtführers hinterherzuhängen, sie schickt umgehend das quietschvergnügte Farbspiel nach Uppsala und weiß, wieviel Spaß Richard daran findet.

Eine junge Frau, beladen mit einem würfelförmigen Geschenkpaket in rosa-orange, drängelt sich eilig zwischen den motorisierten Droschken hindurch. Um ihr linkes Handgelenk sind die absurd langen bunten Bänder eines Heliumballons geknüpft. Er ist durchsichtig und aus seinem Innern blickt ein Einhörnchen, wie aus seiner Fruchtblase, verwundert auf Sonnenhüte oder gerötete Kopfhaut. Es hüpft in zwei Metern Höhe im Rhythmus der hastigen Schritte am unteren Ende seiner Nabelschnur durch die Mittagshitze. Lucias Kamera bleibt in den oberen Etagen der Manege hängen und grüßt dort kurz die Majestäten in ihren marmorierten Pluderhosen.

Im ersten Rang des Palazzo Castellammare betreten zwei lachsfarbene Damen ihre Loge und grüßen gemeinsam mit mit Philipp IV unter Aufsicht von Palermos dienstältester Patronin, Olivia, über den Platz. Lucias Blick gleitet an der Fassade herunter wie schmelzendes Eis an der Waffel. Ein Schweißtropfen rinnt ihr hinterm rechten Ohr über den Schwanenhals und findet seinen Weg über die kleine Stufe des Schlüsselbeins in ihr Dekolletée. Und da sieht sie ihn. Sie ruft aufgeregt in ihr Smartphone: „Ich hab ihn! Ein schöner Fotograf. Sitzt im Schatten am Herbstbrunnen. Leicht angegraut, hochkonzentriert, wartet wie eine Schlange und dann: klickklickklickklick.“

Dann los, Lucia, tanz ihm ins Bild. So fangen Geschichten an!“

Lucia hängt sich das Telefon wie ein Handtäschchen über die Schulter, ihre glitzernden Flipflops stellt sie säuberlich auf den Stufen des Winter-Brunnens ab und schreitet in ihrem weißen, fast bodenlangen Kleid mit Spaghettiträgern betont langsam mitten auf die Bühne. Er musste sie sehen. In der Mitte des Platzes hebt sie, angeführt von den Ellenbogen, beide Arme zur Sonne. Sie spreizt die Finger, als strahle sie ihr von unten entgegen. Lucia dreht sich, gerade schnell genug, dass ihr Rock fliegt, genau einmal um sich selbst und geht dann weiter auf die Stufen des Brunnens zu, der dem Sommer gewidmet ist. Über die Schulter gewendet, versichert sie sich für eine Sekunde des Erfolgs ihres Fotografen. Ja, Richard würde sie in wenigen Minuten auf Instagram, #palermo, eventuell #cinderella oder #cenerentola finden.

Scherzo


Scherzo [’skerʦo] (Mehrzahl Scherzi) ist eine seit 1781 bestehende Bezeichnung für eine rasche ausgelassene musikalische Satzform im 3/4- oder 3/8-Takt und einer der vielen Italianismen der deutschen Musiksprache


Frühmorgens schickt der Sonnenkönig seine Depeschen und mit etwas Glück erhältst auch Du eine Einladung.

Er lässt nur nachts aufspielen und in absoluter Dunkelheit. Alle Damen, in raschelnde Seide geschnürt, werden, da sie maskiert sind, von ihrer Begleitung – das kann auch eine vermeintlich grausame Herzogin sein – an ihre Plätze geführt. Dann dürfen dreizehn olivfarben geschminkte Feen, gewandet in durchsichtige goldene Schleier, die Lichter in den Kandelabern löschen. Dieser reizende Anblick der sich auf Zehenspitzen reckenden Nymphchen, die mit geschlossenen Augen sanft alle Kerze ausblasen, bleibt den Damen vorenthalten, die erst auf einen kleinen Händedruck hin die glatten Schleifen ihrer Augenbinden lösen.

Und erst dann setzt eine brausende Musik ein, die wie ein tiefer Wind sich zu Sturm und Gänsehaut aufbaut, um mit einem sehr hohen, Sekunden stehenden, Ton die Sonne aufzurufen, die ohne Dämmern, ohne Aufgang gleißend und von erschütterndem Durchmesser das schwarze Zelt erfüllt. Ein kleiner sehniger Mann mit Frack und halbem Zylinder, dem er eine Krone übergestülpt hat, schreitet wie ein lebendiger Scherenschnitt in die Mitte des Sonnenrunds. Voilà: der König. Treuer Diener seines Volkes. Und niemand erhebt sich. Er begrüßt seine Gäste aufs Artigste mit tiefen Verbeugungen und Höflichkeiten, die sich am äußersten Rand des Spotts halten, nimmt einen tiefen Atemzug und bedankt sich für das Bouquet, welches die Luft im Zelt schwängert. Nach einer Kunstpause, die er den Damen einräumt, um sich zu räuspern und zurechtzurücken, beginnt er, die allen bekannte Geschichte der beiden Liebenden zu erzählen, die an diesem Abend Leander und Leonore, an einem anderen dann vielleicht Elaphos und Elaphina heißen, ganz wie es seine Launen oder der Duft des Abends ihm einflüstern. Die Damen beten die immer gleichen Verse halblaut mit, als raunten sie ihr Bekenntnis in der Kathedrale. Die Herren und Herzoginnen schließen genußvoll die Augen, und betten ihre Ohren in die leisen Stimmen, die wie ein Mund sprechen und sich zu einem dichten Klangteppich ineinander verweben. Dabei legen sie ihre Hände rechts und links auf ein seidiges Knie, welches sie mit sanftem Druck etwas zu sich heranziehen.

Nach diesem ersten Aufzug spielen ätherische Wesen noch ätherischere, fadendünne Klänge auf filigranen, gläsern anmutenden Instrumenten. Die Damen fächern sich Luft zu und nippen am Perlwein. Die Herren vertreten sich die Beine und rauchen sich vor dem Zelt unter tausenden Sternen aus langen Pfeifen Mut oder Langmut an.

Die Herzoginnen aber suchen die Feen in ihren Garderoben auf. Man erzählt sich, dass sie sie dort an die Stühlchen vor ihren Schminkspiegeln fesseln, damit sie sich bei Weinen zusehen können, während sie die ferne Musik hören.

Dann zieht der König mit seiner Trompete einmal rund um das Zelt und umrundet es ein weiteres Mal mit seinem Gefolge, bis er es ins Innere zurückführt. Die Herren und Herzoginnen nehmen beliebig neue Plätze ein und sobald alle sitzen, drehen Livrierte den schweren Sonnenschild um und augenblicklich sind alle in das Dunkel des Anfangs gehüllt. Die Saaldiener ziehen sich hinter lange Zeltbahnen zurück. Man hört ein gefallenes Glas klirren und ahnt einen kleinen Tropfen Blut auf der Zunge der Dame, die sich beim Aufheben an einer Scherbe geschnitten hat. Vielleicht lässt sie auch den Herrn zu ihrer Rechten oder Linken davon kosten.

Und so beschäftigt, hat dieser nicht bemerkt, wie sich ein waagerecht schwebendes Seil leuchtend weiß vor der schwarzen Zeltwand aufspannt. An jedem Ende fest gehalten von einer Hand, an der auf der einen Seite Leander hängt, in einer tiefen Hocke gut verankert, und an der anderen Seite Leonore zieht, als wolle sie Leander den Arm auskugeln. Der aber lässt sie sich bis zur Erschöpfung abarbeiten. Erst als sie matt auf den Boden sinkt, ohne jedoch ihr Ende des Seils loszulassen, erhebt er sich zu stattlicher Größe. Er singt und seine Bässe lassen das Zelt und alle darin angespannten Nerven vibrieren. Ho perso il cuore e questo amore non è possibile per me, non è possiblile, non è possibile, non è possiblie per me.

Die Großmutter hat es mir so übersetzt: Sein Herz sei verloren, zu lieben sei ihm unmöglich. Und Leonore? Hält kauernd, eine Oktave höher, über seinen vielen Takten einen einzigen schmerzenden Grundton. Als Leander endet, lässt sie den Ton eine Oktave höher klettern und dann eine unerträgliche weiter, bis sie keine Luft mehr hat. Dann werden beide vom Schwarz verschluckt und das Seil hängt lächerlich in der Stille. Das Publikum wagt kaum zu atmen. Und in der Leere hören wir, wie sich Leanders belegte Stimme ins Dunkel tastet: Sei ancora lì? Und Leonore lacht unsichtbar und antwortet hysterisch: Cosa ne pensi. Was Großmutter mit: „Was denkt sich der Idiot“ übersetzte. Dann folgen ihren Liebesschwüren und seinem Non-è-possibile ein neues Crescendo ihres Schmerzes, das sich ins Schweigen schraubt. Und dieser ganze Akt, das ganze Geziehe wiederholt sich in einer bettelnden, einer flehenden und einer mit dem Tode drohenden Variation. Die Damen echauffieren sich und bekommen nicht genug. Luft wird dünn. Die Herren würden allzu gerne einen weiteren Zug aus den Pfeifen nehmen und weil das nicht möglich ist, überlegen sie stattdessen, in welcher Währung sie sich die Ausgaben des Abends erstatten lassen und von wem.

Der Abend aber, wie der König selbst, denkt sich, der Morgen käme früh genug und will noch lange bleiben und lässt die Liebenden noch eine Weile treiben. Seht Leonores neuen Spielen zu! Sie hat das Seil um einen unsichtbaren Stamm geschlungen, ist wundersam hinaufgesprungen, ja fast geschwebt – die eine Dame in der erste Reihe bebt einem recht unverschämten Kuss ins Dekolleté entgegen.

Und Leonore? Lockt oben auf dem Seile tanzend Leander, es ihr gleichzutun.

Er höhnt, er könne doch nicht tanzen und sei auch viel zu schwer-mütig, aber nicht mutig, Jedoch er plänkelt hin und her und hört sich selbst ganz gerne zu und springt hinauf im Nu. Und Leonore? Wähnte sich fast schon am Ziel, als sie fiel. Sie flucht. Er triumphiert: non è possibile, non è possibile, non è possibile per me. Dann vollführt er, einem Hofnarren gleich, eine Rolle rückwärts auf dem Seil und springt geschmeidig und behände an seinem Ende, das die ganze Zeit frei schwebte, hinunter in ein Nichts, gerade noch im Flug das Seil ergreifend. Zurück bleibt, wie am Anfang, nur seine Hand am Tau. Und Leonore? Knotet ihr Ende vom Stamm und zieht und zieht und zieht ihren Leander auf den Plan. Er donnert: Ho perso il cuore e questo amore non è possi… und so weiter. Leonore stimmt, wie könnte es anders sein, ihr Klagen an und quält uns alle durch den nächsten Takt.

Leander mag, ähnlich den Herren, die im Publikum das Hemd durchschwitzen, zermürbt sein, am Ende seines Seils.

Er ergibt sich. Die Damen seufzen und atmen dem glücklichen Ende entgegen.

Und Leonore? Trällert sich in einen Rausch und schmiedet Pläne und dreht sich, und dreht sich und dreht sich, das Seil um ihren Leib windend, ihrem Geliebten entgegen und erstickt, noch ehe sie ihn erreicht.


Der König höchstpersönlich, dieser kleine drahtige Mann, trägt ihren Leichnam aus dem Zelt. Leander badet unterdessen schon in einem tosenden Applaus, die Damen reißen sich die hochgeschobenen Brüste aus dem Mieder. Der König bringt die kleinen Feen wieder. Und Leonore? Darf von oben aus der Kuppel wie aus Ewigkeiten schweben. Es gibt Musik und Tanz, unter Sternen und Küssen bis in den neuen Tag hinein. Dann sammelt ein fliegender Bote mit Fanfaren und gefederten Schuhen die neuen Depeschen beim König ein.