Portiuncula
Der heilige Franz hat ein ehemals elegantes Haus im Wald besetzt. Wir haben dort billige Brause aus PET-Flaschen getrunken, die er Nazibrause nannte. Sie war wohl mit weiteren Pulvern versetzt oder – na ja – jedenfalls wussten wir nicht, wie wir in dieses leere Haus gekommen waren.
Anderntags haben wir uns gegenseitig versichert, dass es das Haus wirklich gibt. Und nun verbringen wir dort unsere Nächte, sie gehören uns nicht alle. Ich hatte ihn gebeten, seinen Plattenspieler in die leeren Räume zu bringen. Da stand er nun auf dem plissierten Parkett und jedes, wirklich jedes Lied, an das wir dachten, landete auf dem Teller, drehte seine Runden und verschwand. Andere Teller gab‘s übrigens nicht. Wir machten diese spezielle wirksamste aller Diäten. Wenn wir Hunger spürten, dann nur auf Bilder und Haut. Meist saßen wir auf dem Boden und schauten durch gläserne Wände in und durch einen Innenhof, mit leerem Bassin, in gegenüberliegende Räume und von dort aus in den dunklen Wald. In allen Scheiben spiegelten sich Sterne und Stämme. Ich hatte mich zunächst bemüht, es herauszufinden, konnte aber nicht mehr sagen, wo innen ist oder außen. Es hatte schnell aufgehört, eine Rolle zu spielen. Wir auch. Sommernachtraum. Aber das gibt es auch, dass wir uns nicht verstehen. Aneinander vorbei reden, denken, schauen. Franz schreibt dann der hybriden Xanthippe – „Was immer Dich antreibt, gute Nacht.“ Und Stunden später liest er: „Na Du treibst mich an – seit jeher. Nein, das ist nicht bequem „aus meiner Kemenate geplaudert zur Nacht“. Ich schreibe direkt aus der Herzkammer: denke nur bis Sommernacht. Nein, nichts was sich anmahnen ließe, weil der Shakespeare aufgrund der Pandemie gestrichen wäre. Ich denke nur bis Sommernacht und Sterndusche. Sternschnuppen. Du weißt schon – der ganze Romantikscheiß. Alle Register. Große Drehbühne. Stunden oder Sekunden. Lichtjahre… was für eine Rolle spielt das? Es könnte auch schneien. Nebelmaschine. Stroboskop. Und dann: Black. Alle Sicherungen durchgebrannt. Die Erde wüst und leer … Du merkst, wie ich mich mühsam ins Lächerliche schleppe? Als böte das Schutz. Es könnte auch so sein: Ich sitze in unserem Waldhaus, trinke Wermut aus der Flasche und warte, welche Platte Du als nächste auflegst.“ „Hey little girl, where will you hide, who can you run to now“ ist die Antwort um drei Uhr in der Früh.
Franz hat inzwischen einen überdimensionalen barocken Rahmen auf den nackten Beton gehängt und durch die gegenüberliegende Scheibe verstörende Bilder in den dunklen Wald gespiegelt. Brutal schön. Hinter einem Vorhang aus feinem Regen: meine Haare in einer Faust, schwer auf meinem Schädel und Bissspuren in meinem Nacken, als sei ich eine Katze. Leichtfüßig gestreichelte Waden, zerkratzte Rücken. Gebrochene Rippen stechen zwischen die Stämme wie geknickte Äste. Trockene Lippen, wie dürstende Dürre, fangen reflektierende Sternchen, möchten sie wie einen glitzernden Lippgloss verteilen. Ein mächtiger Zauber. Elfen erbleichen und ängstlichere Wesen graben sich unter vorjährig raschelndes Laub in die Erde.
Ich bete jedes Bild bis Sonnenaufgang. 4:44 Uhr. Over. Over wie Amen.
My Prof, holding a chair of Magical Thinking, left me a note on a tree in Prospect Park:
Now you have to #goonyourown. In the end of this lesson you will be enabled to enlighten your teacher. Good Luck. Always remember: you‘re blessed.
Exercise no2: How to #flywithaheartofstone
Translate the following lines into a language that you can easily reach.
Wir mussten im alten Eichenwald jeden Stein umdrehen. Der heilige Franz gestand mir, er habe sein Herz verloren. Lange bevor er mich traf. Es wiederzufinden ist schwerer, als Trüffel zu jagen. Ich hatte nur eine Erinnerung an sein Herz, wie Seifenschaum, kurz in Händen gehalten. Wie schön sein Herz sein musste, wenn mich schon ein Abbild derart entrückte. Dekaden später war er immer noch herzlos, meine Nägel waren stumpf und auch meine Augen hatten ihren Glanz verloren. Sie schimmerten nur noch, wenn ich nachts wieder weinte, sobald er schlief. Denn ich wollte nicht, dass er sich auch noch um mein Herz sorgen musste. Als ich noch viel jünger war, hatte ich gedacht, ich würde sein Petrusherz finden. Ich würde es zwischen tausend Steinen erkennen und es aufheben. In meiner zitternden Hand würde es anfangen zu schlagen. Doch er wusste um mich und trat eines morgens in die Kapelle, hielt mir einen der Steine hin und behauptete, das sei sein Herz. Er beugte die Knie, senkte sein Haupt und schob sich den Stein durchs Sternum. Wir wussten beide, dass wir uns belogen und beteten trotzdem um Wunder.
Das Schlimmste, was jetzt passieren könnte, wäre, dass sich meine Schultern gleichgültig heben: Er weiß nicht, dass er nur seine schweren Hände lauschend darauflegen muss, weil in seiner Ausgabe des Evangeliums die eine Saite fehlt.
So dachte ich. Aber Franz hat noch vor Einbruch der nächsten Dunkelheit das trockene Laub zusammengetragen und unser Haus niedergebrannt. Alle meine Tränen konnten es nicht löschen und nun hocke ich im Steineichenwald unter Mond und Sternen. Und der Franz hat mich verlassen. Da fällt ein Silberstrahl auf das, was einmal sein Herz gewesen sein muss. Es liegt vor meinen Füßen, aber es atmet nicht mehr. Ich werde mich in einen Baum verwandeln und es bis zum Ende der Zeit bewachen.
Over. Over, nicht Amen.
Ohne Bilder keine Geschichten ohne Bilder
Alle Photographien sind mehr als großzügige Leihgaben von Matthias Tegeler, der sagt: „Ich mag lieber Bilder über etwas als von etwas.“
Alle Texte sind von Judith Sumalvico, die sagt: „Ich bin ein Flusskind.“
~ auf einer Ruhrinsel entstanden ~ am Rhein geboren ~ aufgewachsen an Neckar und Aller ~ in der Maggia schwimmen gelernt ~ an der Oker spritzen geübt ~ an der Donau Haare gelassen ~ an der Weser Sprünge gewagt ~ lange elbkinderreich verankert ~ unterwegs ins Ionische Meer
test
Exil
Richard Löwenherz regiert aus Uppsala über eine handvoll Gaukler, die er online in aller Welt aufgetrieben hat. Wenn Sie keine Vorstellung davon haben, wie es in Uppsala aussieht, weil Sie noch nie dort gewesen sind: Es spielt keine Rolle. Richard würde sich, könnte er es noch, ins Fäustchen lachen und zwinkernd sagen: „Ich weiß das doch auch schon gar nicht mehr.“
Beschränken Sie sich also einfach auf das Zimmer, in dem Richard an seinem Rechner sitzt und die Fäden nur noch sprichwörtlich in der Hand hält. Im Winter wird es kaum hell, im Sommer kaum dunkel. Richard komponiert auf drei Monitoren ein Livetriptychon. Sehr einfach gesagt, auf den Außenflügeln kommen ungefiltert Videosequenzen aus aller Welt an: links Leiden, rechts Rosen und in der Mitte fügt Richard, best of eingehendem Material, einen fulminanten Reigen zusammen. Um den immensen technischen Aufwand bewältigen zu können, kommen vormittags ab zehn Studierende der Informatik und der Ästhetik ins Haus. Die Internetseite des Livestreams ist täglich zweimal zwei Stunden online, von elf bis eins und zwischen achtzehn und zwanzig Uhr.
Sie verfügt inzwischen über ein umfangreiches Archiv, auf das Fans in den Sendepausen zugreifen können. Richards Seite findet großen Anklang bei Kunst- und Kulturschaffenden aus aller Welt.
Mitglieder aus Richards ehemaligem Ensemble, inzwischen auch Schauspielschülerinnen und Tänzer aus ganz Europa, treten online mit ihm in Kontakt. Die einzige Bedingung, unter der sie an der Installation teilnehmen dürfen, ist, dass es ihnen gelingt, ihre kleine Episode so zu inszenieren, dass sie die Aufmerksamkeit und vor allem die Kameras von Zeugen auf sich zieht. Richards Geliebte, Tyche, ist die beste Regieassistentin, die er je hatte.
Die Hashtags, unter denen oft nur Minuten später ein Foto oder Video gepostet wird, verlinkt Richards Team über seinen Instagramaccount auf die Seite des Triptychons. Rechts sehen Sie
eine junge Frau, die vor etwa sieben Minuten barfuß in einem langen weißen Kleid auf die Mitte eines mit barocken Palästen umstellten Platzes lief. Dort hob sie anmutig ihre Arme, sie ist Tänzerin, drehte sich mit schwingendem Rock exakt ein mal um sich herum, setzte ihren Weg fort und verschwand in einer der Gassen. Das Video war umgehend unter den ## palermo, quattrocanti, und cinderella veröffentlicht worden. Auf dem linken Flügel des Triptychons übergibt sich ein junger zartgliedriger Veganer gegen eine Hausecke. Er hatte einen beliebten Markt aufgesucht, dessen Liveschlachtungen täglich hunderte Touristen in einer Mischung aus Ekel und Faszination anzogen. Auf dem mittleren Monitor animiert einer der Studenten die paarweise besetzten Gondeln eines klappriges Holzriesenrads, das sich schneller und schneller dreht. Die Gondel reißen nach und nach aus und verschwinden am linken Bildrand. Richard wählt mit seiner Hightech-Umfeldsteuerung Vivaldis Sturm als Untermalung aus seiner Playlist. Seiner Tänzerin in Palermo meldet er per Sprachcomputer den Erfolg ihres Auftritts zurück: „Schön, dass Du wieder mal dabei warst, Lucia. Iss ein Pistazieneis für mich mit.“
Lucia sendet ein grünes Herz zurück. Es klingelt und Richard öffnet seiner Pflegerin die Tür mittels Kopfmaus. Sie sorgt fürs leibliche Wohl, die jungen Leute schickt sie in die Mensa und seinem Magen eine Portion durch die Sonde. Dann kümmert sie sich darum, dass er seine Siesta liegend einhalten kann. Wenn Sie keine Vorstellung davon haben, wie viele Klicks, Likes und Follower Richard Löwenherz hat, so spielt das ebenfalls keine Rolle. Sie haben jetzt eine Vorstellung seiner Stärke.
Teatro del Sole
Richard inszeniert eine neue Art des Straßentheaters, zeitgenössisch, also virtuell.
Die achteckige Bühne der Piazza Vigliena wird von aufgeregten Statisten belagert.
Lucia betritt sie am späten Vormittag des 3. September, die Sonne steht beinahe im Zenit. Nach und nach werden die jegliche Klischees darbietenden Komparsen ermattet in die vier sich gegenüberliegenden Gassen abgehen und Lucia die Piazza für eine einzige Pirouette auf ihrem Weg von Ost nach West freigeben.
Sie arbeitet inzwischen so lange mit Richard, dass sie genau weiß, was er von ihr erwartet.
Also bleibt sie am äußersten Rand malerisch zwischen gelben E-Scootern und einem Fiaker stehen und beobachtet das bunte Treiben. Ihre Aufgabe besteht darin, zwischen all diesen Leuten geeignete Spielpartner zu finden.
Mit ihrem Telefonino sendet sie Richard per Videocall allerlei Szenen. Direkt neben ihr tritt soeben eine Dame vorwitzig aus einer Gruppe älterer Französinnen, wie deren Klassensprecherin, hervor. Beherzt hält sie einen jungen Stadtführer an. Aus, für die Dame, unverständlichen Gründen, erkennt er sie nicht sofort wieder, das wird Lucia aus den Wortfetzen klar, die zu ihr herüberfliegen. Sie versteht, dass der Mann die Damen gestern auf ihrem Spaziergang über den Mercato Ballarò begleitet hat. Lucia gelingt es, seinen Blick einzufangen und sein genervter Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein amüsiertes, entzücktes, Lucia findet sogar entzückendes, Lächeln. Die Dame fühlt sich augenblicklich jünger, sie spannt ihren Körper, korrigiert ihre Aufrichtung. Und der große Mann mit dem schulterlangen sonnenblonden Haar tritt in winzig kleinen Schritten näher in Lucias Richtung. Er scherzt inzwischen lebhaft mit der Dame, während seine Augen beginnen, Lucia eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Der Fiaker fährt an, muss jedoch noch einmal anhalten, weil dem jüngsten Touristen der Fuhre der Schnuller aufs Pflaster gefallen ist. Igitt. Als Lucia wieder freie Sicht hat, sind der Stadtführer und die Damen verschwunden. Dafür wuchtet gerade ein Mann sein neongelbes Bierfässchen, welches seine Storchenbeine, natürlich in zu kurzen Hosen, nicht länger durch die Mittagshitze balancieren können, in ein azurblaues Dreirad. Lucia bleibt keine Zeit, der verpassten Geschichte des Stadtführers hinterherzuhängen, sie schickt umgehend das quietschvergnügte Farbspiel nach Uppsala und weiß, wieviel Spaß Richard daran findet.
Eine junge Frau, beladen mit einem würfelförmigen Geschenkpaket in rosa-orange, drängelt sich eilig zwischen den motorisierten Droschken hindurch. Um ihr linkes Handgelenk sind die absurd langen bunten Bänder eines Heliumballons geknüpft. Er ist durchsichtig und aus seinem Innern blickt ein Einhörnchen, wie aus seiner Fruchtblase, verwundert auf Sonnenhüte oder gerötete Kopfhaut. Es hüpft in zwei Metern Höhe im Rhythmus der hastigen Schritte am unteren Ende seiner Nabelschnur durch die Mittagshitze. Lucias Kamera bleibt in den oberen Etagen der Manege hängen und grüßt dort kurz die Majestäten in ihren marmorierten Pluderhosen.
Im ersten Rang des Palazzo Castellammare betreten zwei lachsfarbene Damen ihre Loge und grüßen gemeinsam mit mit Philipp IV unter Aufsicht von Palermos dienstältester Patronin, Olivia, über den Platz. Lucias Blick gleitet an der Fassade herunter wie schmelzendes Eis an der Waffel. Ein Schweißtropfen rinnt ihr hinterm rechten Ohr über den Schwanenhals und findet seinen Weg über die kleine Stufe des Schlüsselbeins in ihr Dekolletée. Und da sieht sie ihn. Sie ruft aufgeregt in ihr Smartphone: „Ich hab ihn! Ein schöner Fotograf. Sitzt im Schatten am Herbstbrunnen. Leicht angegraut, hochkonzentriert, wartet wie eine Schlange und dann: klickklickklickklick.“
„Dann los, Lucia, tanz ihm ins Bild. So fangen Geschichten an!“
Lucia hängt sich das Telefon wie ein Handtäschchen über die Schulter, ihre glitzernden Flipflops stellt sie säuberlich auf den Stufen des Winter-Brunnens ab und schreitet in ihrem weißen, fast bodenlangen Kleid mit Spaghettiträgern betont langsam mitten auf die Bühne. Er musste sie sehen. In der Mitte des Platzes hebt sie, angeführt von den Ellenbogen, beide Arme zur Sonne. Sie spreizt die Finger, als strahle sie ihr von unten entgegen. Lucia dreht sich, gerade schnell genug, dass ihr Rock fliegt, genau einmal um sich selbst und geht dann weiter auf die Stufen des Brunnens zu, der dem Sommer gewidmet ist. Über die Schulter gewendet, versichert sie sich für eine Sekunde des Erfolgs ihres Fotografen. Ja, Richard würde sie in wenigen Minuten auf Instagram, #palermo, eventuell #cinderella oder #cenerentola finden.
Scherzo
Scherzo [’skerʦo] (Mehrzahl Scherzi) ist eine seit 1781 bestehende Bezeichnung für eine rasche ausgelassene musikalische Satzform im 3/4- oder 3/8-Takt und einer der vielen Italianismen der deutschen Musiksprache
Frühmorgens schickt der Sonnenkönig seine Depeschen und mit etwas Glück erhältst auch Du eine Einladung.
Er lässt nur nachts aufspielen und in absoluter Dunkelheit. Alle Damen, in raschelnde Seide geschnürt, werden, da sie maskiert sind, von ihrer Begleitung – das kann auch eine vermeintlich grausame Herzogin sein – an ihre Plätze geführt. Dann dürfen dreizehn olivfarben geschminkte Feen, gewandet in durchsichtige goldene Schleier, die Lichter in den Kandelabern löschen. Dieser reizende Anblick der sich auf Zehenspitzen reckenden Nymphchen, die mit geschlossenen Augen sanft alle Kerze ausblasen, bleibt den Damen vorenthalten, die erst auf einen kleinen Händedruck hin die glatten Schleifen ihrer Augenbinden lösen.
Und erst dann setzt eine brausende Musik ein, die wie ein tiefer Wind sich zu Sturm und Gänsehaut aufbaut, um mit einem sehr hohen, Sekunden stehenden, Ton die Sonne aufzurufen, die ohne Dämmern, ohne Aufgang gleißend und von erschütterndem Durchmesser das schwarze Zelt erfüllt. Ein kleiner sehniger Mann mit Frack und halbem Zylinder, dem er eine Krone übergestülpt hat, schreitet wie ein lebendiger Scherenschnitt in die Mitte des Sonnenrunds. Voilà: der König. Treuer Diener seines Volkes. Und niemand erhebt sich. Er begrüßt seine Gäste aufs Artigste mit tiefen Verbeugungen und Höflichkeiten, die sich am äußersten Rand des Spotts halten, nimmt einen tiefen Atemzug und bedankt sich für das Bouquet, welches die Luft im Zelt schwängert. Nach einer Kunstpause, die er den Damen einräumt, um sich zu räuspern und zurechtzurücken, beginnt er, die allen bekannte Geschichte der beiden Liebenden zu erzählen, die an diesem Abend Leander und Leonore, an einem anderen dann vielleicht Elaphos und Elaphina heißen, ganz wie es seine Launen oder der Duft des Abends ihm einflüstern. Die Damen beten die immer gleichen Verse halblaut mit, als raunten sie ihr Bekenntnis in der Kathedrale. Die Herren und Herzoginnen schließen genußvoll die Augen, und betten ihre Ohren in die leisen Stimmen, die wie ein Mund sprechen und sich zu einem dichten Klangteppich ineinander verweben. Dabei legen sie ihre Hände rechts und links auf ein seidiges Knie, welches sie mit sanftem Druck etwas zu sich heranziehen.
Nach diesem ersten Aufzug spielen ätherische Wesen noch ätherischere, fadendünne Klänge auf filigranen, gläsern anmutenden Instrumenten. Die Damen fächern sich Luft zu und nippen am Perlwein. Die Herren vertreten sich die Beine und rauchen sich vor dem Zelt unter tausenden Sternen aus langen Pfeifen Mut oder Langmut an.
Die Herzoginnen aber suchen die Feen in ihren Garderoben auf. Man erzählt sich, dass sie sie dort an die Stühlchen vor ihren Schminkspiegeln fesseln, damit sie sich bei Weinen zusehen können, während sie die ferne Musik hören.
Dann zieht der König mit seiner Trompete einmal rund um das Zelt und umrundet es ein weiteres Mal mit seinem Gefolge, bis er es ins Innere zurückführt. Die Herren und Herzoginnen nehmen beliebig neue Plätze ein und sobald alle sitzen, drehen Livrierte den schweren Sonnenschild um und augenblicklich sind alle in das Dunkel des Anfangs gehüllt. Die Saaldiener ziehen sich hinter lange Zeltbahnen zurück. Man hört ein gefallenes Glas klirren und ahnt einen kleinen Tropfen Blut auf der Zunge der Dame, die sich beim Aufheben an einer Scherbe geschnitten hat. Vielleicht lässt sie auch den Herrn zu ihrer Rechten oder Linken davon kosten.
Und so beschäftigt, hat dieser nicht bemerkt, wie sich ein waagerecht schwebendes Seil leuchtend weiß vor der schwarzen Zeltwand aufspannt. An jedem Ende fest gehalten von einer Hand, an der auf der einen Seite Leander hängt, in einer tiefen Hocke gut verankert, und an der anderen Seite Leonore zieht, als wolle sie Leander den Arm auskugeln. Der aber lässt sie sich bis zur Erschöpfung abarbeiten. Erst als sie matt auf den Boden sinkt, ohne jedoch ihr Ende des Seils loszulassen, erhebt er sich zu stattlicher Größe. Er singt und seine Bässe lassen das Zelt und alle darin angespannten Nerven vibrieren. Ho perso il cuore e questo amore non è possibile per me, non è possiblile, non è possibile, non è possiblie per me.
Die Großmutter hat es mir so übersetzt: Sein Herz sei verloren, zu lieben sei ihm unmöglich. Und Leonore? Hält kauernd, eine Oktave höher, über seinen vielen Takten einen einzigen schmerzenden Grundton. Als Leander endet, lässt sie den Ton eine Oktave höher klettern und dann eine unerträgliche weiter, bis sie keine Luft mehr hat. Dann werden beide vom Schwarz verschluckt und das Seil hängt lächerlich in der Stille. Das Publikum wagt kaum zu atmen. Und in der Leere hören wir, wie sich Leanders belegte Stimme ins Dunkel tastet: Sei ancora lì? Und Leonore lacht unsichtbar und antwortet hysterisch: Cosa ne pensi. Was Großmutter mit: „Was denkt sich der Idiot“ übersetzte. Dann folgen ihren Liebesschwüren und seinem Non-è-possibile ein neues Crescendo ihres Schmerzes, das sich ins Schweigen schraubt. Und dieser ganze Akt, das ganze Geziehe wiederholt sich in einer bettelnden, einer flehenden und einer mit dem Tode drohenden Variation. Die Damen echauffieren sich und bekommen nicht genug. Luft wird dünn. Die Herren würden allzu gerne einen weiteren Zug aus den Pfeifen nehmen und weil das nicht möglich ist, überlegen sie stattdessen, in welcher Währung sie sich die Ausgaben des Abends erstatten lassen und von wem.
Der Abend aber, wie der König selbst, denkt sich, der Morgen käme früh genug und will noch lange bleiben und lässt die Liebenden noch eine Weile treiben. Seht Leonores neuen Spielen zu! Sie hat das Seil um einen unsichtbaren Stamm geschlungen, ist wundersam hinaufgesprungen, ja fast geschwebt – die eine Dame in der erste Reihe bebt einem recht unverschämten Kuss ins Dekolleté entgegen.
Und Leonore? Lockt oben auf dem Seile tanzend Leander, es ihr gleichzutun.
Er höhnt, er könne doch nicht tanzen und sei auch viel zu schwer-mütig, aber nicht mutig, Jedoch er plänkelt hin und her und hört sich selbst ganz gerne zu und springt hinauf im Nu. Und Leonore? Wähnte sich fast schon am Ziel, als sie fiel. Sie flucht. Er triumphiert: non è possibile, non è possibile, non è possibile per me. Dann vollführt er, einem Hofnarren gleich, eine Rolle rückwärts auf dem Seil und springt geschmeidig und behände an seinem Ende, das die ganze Zeit frei schwebte, hinunter in ein Nichts, gerade noch im Flug das Seil ergreifend. Zurück bleibt, wie am Anfang, nur seine Hand am Tau. Und Leonore? Knotet ihr Ende vom Stamm und zieht und zieht und zieht ihren Leander auf den Plan. Er donnert: Ho perso il cuore e questo amore non è possi… und so weiter. Leonore stimmt, wie könnte es anders sein, ihr Klagen an und quält uns alle durch den nächsten Takt.
Leander mag, ähnlich den Herren, die im Publikum das Hemd durchschwitzen, zermürbt sein, am Ende seines Seils.
Er ergibt sich. Die Damen seufzen und atmen dem glücklichen Ende entgegen.
Und Leonore? Trällert sich in einen Rausch und schmiedet Pläne und dreht sich, und dreht sich und dreht sich, das Seil um ihren Leib windend, ihrem Geliebten entgegen und erstickt, noch ehe sie ihn erreicht.
Der König höchstpersönlich, dieser kleine drahtige Mann, trägt ihren Leichnam aus dem Zelt. Leander badet unterdessen schon in einem tosenden Applaus, die Damen reißen sich die hochgeschobenen Brüste aus dem Mieder. Der König bringt die kleinen Feen wieder. Und Leonore? Darf von oben aus der Kuppel wie aus Ewigkeiten schweben. Es gibt Musik und Tanz, unter Sternen und Küssen bis in den neuen Tag hinein. Dann sammelt ein fliegender Bote mit Fanfaren und gefederten Schuhen die neuen Depeschen beim König ein.